Wo die Zeit ein anderes Tempo hat

Birgit Leibner & Ingolf Watzlaw

Macher der Woche vom 17. Februar 2016

Im ehemaligen Musikhaus „Charts“ auf dem Rosenhof wird gemalert und gefegt. Ungewöhnliche Gestelle und bunte Stoff-Elemente stehen im Raum. Hier zieht kein neues Geschäft ein, sondern zeigt sich demnächst eine besondere Ausstellung. Zwei ältere Damen verzieren gerade eine Art Stehlampe, die mit gestricktem Stoff bespannt ist. Mittendrin steht Birgit Leibner vom Bürgerhaus City und bespricht mit Ingolf Watzlaw, was sie bis zum nächsten Freitag, dem 19. Februar noch schaffen müssen. Den Raum verändern werden dann 20 eingestrickte Lichtobjekte mit integrierter Klanginstallation sowie eine mit der Installation korrespondierende Videoarbeit, entwickelt mit Frauen aus einem Strick- und Häkelkurs, der mittwochnachmittags stattfindet. Wir sprachen mit Birgit Leibner und Ingolf Watzlaw über dieses ungewöhnliche Kunstprojekt.


Was passiert mittwochnachmittags im Bürgerhaus City?
Birgit Leibner:
Da wird gestrickt, geklöppelt oder genäht. Hier trifft sich eine Strickgruppe aus bis zu 20 Frauen im Alter von 40 bis 90 Jahren.

Kommen alle Frauen hier aus der Gegend?
Birgit Leibner: Viele, aber nicht alle. Die Hälfte kommt hier direkt aus der Innenstadt. Manche haben früher mal in der Innenstadt gewohnt, sind jetzt woanders hin gezogen, aber kommen immer noch zu unseren Angeboten. Ja, eigentlich trifft sich hier mittlerweile das ganze Stadtgebiet. Aus einem lockeren Zusammentreffen hat sich ein Kurs entwickelt. Diese Strickgruppe hat sich schon beim Balkonballett eingebracht und da lag es nahe, die Idee weiterzuentwickeln.
Ingolf Watzlaw: Die Frauen waren so engagiert beim Balkonballett. Zur Abschlussfeier haben wir schon beschlossen, die Idee nochmal aufzugreifen und ein eigenes Projekt zu machen.

Im Jahr 2013 fand mit dem Balkonballett die erste Kunstaktion dieser Art am Rosenhof statt. Damals verwandelte Gabi Reinhardt, Theaterpädagogin aus Chemnitz, gemeinsam mit der Hausgemeinschaft das markante Hochhaus zu einer großen Theaterbühne. Ingolf Watzlaw war für das Bühnenbild beim Balkonballett verantwortlich. „Die Frauen hatten unheimlich viele einzelne Stücke gehäkelt“, erzählt Watzlaw. „Einen Schal hatten wir für das Balkonballett erdacht. Der reichte dann fast von oben bis unten. Und es war aber noch so viel von den Handarbeiten übrig, dass wir überlegt haben, was wir noch daraus machen können. So entstanden die ersten Lampen – der Urtyp von dem, was wir bei ‘mittwochnachmittag‘ sehen werden.“

Wie haben Sie dieses Kunstprojekt in Angriff genommen?
Ingolf Watzlaw: Wir wollten zwei Aspekte betrachten. Einerseits ging es um die Gemeinschaft, die entsteht, wenn man sich regelmäßig in diesen Runden trifft. Und zum anderen geht es um den Aspekt der Zeit, da wir das Handwerkliche als Gegenbewegung zur gesellschaftlichen Beschleunigung verstehen. Es ging um zwei Fragen: Welche Zeiterfahrung prägen unseren Alltag? Und wie wollen wir zusammen leben und arbeiten? In der Arbeitswelt sehe ich viele Prozesse, die alles andere als demokratisch sind. Da ist doch die Frage, was das mit uns macht und wie eine Demokratisierung der Arbeitswelt aussehen würde.
Birgit Leibner: Viele sehen diese Runden wirklich als Ausgleich. Einige Teilnehmerinnen sind berufstätig. Die versuchen trotzdem immer zu kommen. Das ist der Moment, wo sie sich fallen lassen. Die Zeit gehört nur ihnen. Die Zeit hat ein anderes Tempo.
Ingolf Watzlaw: Wir haben zu den zwei Themen Gesellschaft und Zeit zwei Workshops veranstaltet. Die Frauen haben ja so viel gestrickt. Wir haben gezeichnet. Wir haben eine Choreografin dabei, die den körperlichen Aspekt zeigen will. Wir haben auch Unterstützung von der Universität erhalten und theoretische Fragen erörtert. Und während wir uns zu den Themen getroffen haben, wurde immer weitergestrickt.
Birgit Leibner: (lacht) Ja. Selbst bei dem Vortrag vom Industriemuseum, den die Frauen aufmerksam verfolgt haben, haben sie nebenher gestrickt.
Ingolf Watzlaw: Das Stricken hat uns geholfen, den Aspekt Zeit ganz neu zu fassen.

Wie sind aus diesen Workshops letztlich die Kunstobjekte entstanden? 
Ingolf Watzlaw: Wir haben diese Kunstobjekte gemeinsam entwickelt. Als Vorgabe habe ich diese lampenähnlichen Formen entworfen. In der Gestaltung waren die Frauen aber völlig frei. Wir wussten außerdem, dass die Objekte beleuchtet sein und die Persönlichkeiten der Frauen widerspiegeln sollen. Wir haben dann noch Interviews gemacht, die per Lautsprechermodule in den einzelnen Objekten abgespielt werden können. Auch den Herstellungsprozess und die Gedanken der Teilnehmer haben wir mit einer Videoinstallation festgehalten.
Birgit Leibner: Wir hatten auch wunderbare Kooperationspartner, die Berufsförderungs-Network e. V., die die Gestelle aus Holz gefertigt haben. Wirklich viele haben uns geholfen und einfach so mitgemacht. Alle, vor allem auch die 20 Frauen, sind über ein Jahr an diesem Thema dran geblieben.

Was ist das Besondere an solch einer Zusammenarbeit?
Birgit Leibner: Bemerkenswert war, wie sich die Teilnehmerinnen dieses Thema erarbeitet haben und teilweise über sich selbst hinausgewachsen sind. Wir brauchten Texte, die die Objekte beschreiben. Da kamen so viele Gedanken und Gefühle, die Beweggründe sind wunderbar nachvollziehbar. Und die Frauen haben großes Selbstbewusstsein entwickelt und sind in der Arbeit aufgegangen.
Ingolf Watzlaw: Die Frage war ja auch immer, ob wir eingreifen bzw. vorgeben oder die Frauen einfach machen lassen. Wir haben sie dann machen lassen, weil es so spannend war, zu verfolgen, wie das Ganze wächst.
Birgit Leibner: Die Objekte sind dann auch ständig weiterentwickelt worden. Die Beleuchtung kam hinzu, dann bewegen sie sich. Der Ton kam dazu. Das war wie ein Selbstläufer.

Die Ausstellung wird in einem Ladengeschäft, das seit längerem leer steht, im Rosenhof stattfinden, wenige Meter von ihrem Bürgerhaus City entfernt. Warum dort?
Ingolf Watzlaw: Wir haben uns ganz viele Ausstellungsorte angeschaut. Dieser Raum, das ehemalige Musikhaus „Charts“, war auch ganz am Anfang mit dabei. Aber bei dem Zustand haben wir gedacht, wir lassen lieber die Finger davon. (lacht)
Birgit Leibner: Wir brauchten einen großen, hohen Raum. Bei den Museen in der Stadt, die solche Räume haben, wäre es aber beispielsweise schwierig geworden, die Ausstellung kostenfrei zu öffnen.
Ingof Watzlaw:law: Wir waren zwei- oder dreimal in dem Laden und haben dann irgendwann gedacht: vielleicht geht’s ja doch. Jetzt haben wir nach vielen Stunden Arbeit den Zustand, dass wir sagen: ja, es geht.

Dass sich das Projekt selbst jetzt wieder im Rosenhof zeigen kann, ist ja aber ein großer Vorteil.
Birgit Leibner: Auf jeden Fall. Für den Rosenhof ist das wichtig. Die Wohnungen hier sind ja sehr gut vermietet, die Geschäfte nur leider nicht. Wir liegen so nah am Rathaus, aber das Potenzial wird nicht genutzt. Es ist eine so schöne Fläche. Total geeignet für Kunst und Kultur im Freien. Familientauglich. Es ist eine Zone der Entspannung und zum zur Ruhe kommen.

Was tragen Sie zur Belebung des Rosenhofes bei?
Birgit Leibner: Wir sind ein Verein, der sehr breit aufgestellt ist und viele Aufgaben übernimmt, manchmal auch zu viel. Wir sind ein soziokulturelles Zentrum. Wir haben viele Bildungsangebote und es kommen auch wirklich viele Leute her. Nur leider reicht unser Platz hier kaum noch aus. Wir bieten Alltagsbegleitung für ältere Menschen, die hier leben, wir vermitteln Gästewohnungen, bieten Englisch-, Deutschkurse und Computerkurse an. Es gibt jede Menge Kreativangebote und nebenher betreuen wir noch das Projekt Gläserne Werkstätten. Mehr Platz hätte ich wirklich gern für die vielen kreativen Ideen und vor allem auch die Begegnungen von Deutschen und Nicht-Deutschen.

Wie viel Menschen engagieren sich in Ihrem Verein?
Birgit Leibner: Das sind an die 60 Personen, allein 22 Leiterinnen und Leiter, die die Kurse abdecken.

Was ist das Besondere an Ihrer Arbeit?
Birgit Leibner: Das ist der Kontakt mit den Menschen und zu sehen, dass sich so viele engagieren. Arbeit mit Ehrenamtlichen ist nicht immer ganz einfach, weil die auch eine Anleitung brauchen und Wertschätzung erfahren wollen. Viele leisten hier eine unglaublich gute Arbeit – ohne jegliche Gegenleistung. Da müsste man eigentlich öfter mal sagen: Schön, dass du das machst. Ich mache das hier auch, weil ich es wichtig finde, etwas für die Integration zu tun. Und tatsächlich geht es um das Tun, nicht nur um Appelle oder Reden.

Ist der Rosenhof auch Ihr Lieblingsort?
Birgit Leibner: Ich habe schon eine besondere Beziehung zum Rosenhof. Als ich neun war, haben wir hier die erste Wohnung bekommen. Wir sind dann später auch in andere Stadtteile von Chemnitz gezogen. Und als meine Kinder aus dem Haus waren, bin ich in den Rosenhof zurückgezogen. Ich bin hier schnell im Museum, im Theater. Es passiert immer etwas. Trotzdem wohnen wir hier ruhig. Ach, und eigentlich gibt es viele schöne Plätze in Chemnitz, zum Beispiel den Schloßberg und den Schloßteich.
Ingolf Watzlaw: Ich wohne ja eigentlich in Berlin, war für das Balkonbalett längere Zeit in der Stadt und jetzt eben auch wieder. Ich habe viel von der Innenstadt gesehen. Die Stadt habe ich schnell lieb gewonnen. Es gibt auffallend leere Stellen, aber auch ganz hübsche Ecken, wie den Kaßberg. Was mir bei meinen Spaziergängen durch den Kopf ging, war, dass es hier viele Orte gibt, die man sich eigentlich wieder aneignen kann oder könnte. Solche Orte gab es vielleicht vor 15 Jahren auch noch in Berlin und die sind jetzt größtenteils besetzt. Hier kann man noch die Phantasie spielen lassen.

Muss man den Chemnitzern Mut machen?
Birgit Leibner: Die Chemnitzer haben ein viel zu schlechtes Bild von ihrer Stadt. Die Stadt kann sich aber nur mit den Bürgern und durch die Bürger verändern. Die Gäste wissen oftmals mehr zu schätzen, was sie an der Stadt haben. Diese kompakte Stadt, in der man schnell von A nach B kommt, die kulturell viel zu bieten hat. Und dass in Chemnitz nichts los ist, stimmt absolut nicht. Ich würde mir wirklich einen fröhlicheren Chemnitzer wünschen. Anstatt zu behaupten, wir seien die älteste Stadt, sollten wir sagen: Schaut her, hier kann man gut alt werden. Und ich sehe hier so viele junge Leute und Familien, dass ich für die Zukunft keine Bange habe. Und wenn wir uns darauf einlassen, dass nicht alle Bewohner dieser Stadt Sachsen sein müssen, dann ist noch viel möglich.

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