Rede zur Kranzniederlegung am 5. März 2022

Oberbürgermeister Sven Schulze.

Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, des sächsischen Landtages und des Chemnitzer Stadtrates,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Chemnitzerinnen und Chemnitzer,
 

5. März 1945, ein Montag: Nachdem am Vormittag bereits fast 600 Tonnen Bomben auf Chemnitz gefallen waren, bedeckte am Abend eine weiße, sanfte Schneeschicht die Straßen. Doch die ruhige Stimmung täuscht. Wir sprechen 77 Jahre später von der schlimmsten Nacht in der jüngeren Stadtgeschichte. 

In den Flammen und Trümmern starben in jener Nacht 2.100 Menschen. Sie wurden von herabfallenden Trümmern erschlagen, von den Bomben getroffen. Sie erstickten oder verbrannten.

Jedes Jahr zum Chemnitzer Friedenstag laden wir, die Stadt, Zeitzeugen dieser Nacht ein. Erst gestern wieder. Diese Begegnungen, die Gespräche und persönlichen Treffen berühren mich immer wieder sehr. Sie halten die Erinnerungen wach und lassen mich teilhaben an dem Leid der Menschen zu dieser Zeit.

Mit ihnen tauche ich in die Erlebnisse tief ein, nehme Anteil, laufe mit ihnen und ihren Familien durch das zerbombte Chemnitz. Stehe auf den Bergen von Schutt und Asche, suche verzweifelt nach Überlebenden. Höre die Schreie der Verletzten und Verwundeten. Alles war kaputt. Überall Zerstörung, Trümmer. Die Not und Angst, aber auch das Glück selbst überlebt zu haben, lagen eng beieinander. 

Die Zeitzeugen dieser Nacht, die Überlebenden, haben in ihrer Präsenz für mich eine unglaubliche Aura, weil sie den Schrecken dieser Nacht, der durch den Terror des Nationalsozialismus verursacht wurde, am eigenen Leib miterleben mussten. Ihre Erzählungen sind so lebendig, aufregend und doch so grausam und verstörend.

Wir werden es nach meiner Rede erleben dürfen, wenn zwei Zeitzeugen berichten.

[Anrede],

der 5. März ist für uns Chemnitzerinnen und Chemnitzer ein Tag des Gedenkens und des Nachdenkens. Und so soll, so muss es bleiben.

Wir, die heute Lebenden, tragen keine persönliche Schuld an dem Völkermord, der vor fast acht Jahrzehnten von Deutschland ausging.

Aber wir tragen eine große Verantwortung dafür, dass das Geschehene unvergessen bleibt. Auch wenn die meisten von uns keine Zeitzeugen sind, so ist es unsere Pflicht, jenen anzuhören, die es damals erleben mussten. Ihnen zuzuhören und so ihre Erinnerung lebendig zu halten.

Wir tragen eine große Verantwortung dafür, dass die Wahrheiten von damals von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Und wir dürfen nicht zulassen, dass das Gedenken an die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges missbraucht wird.
 

[Anrede],

man hatte die Hoffnung, die Menschen lernen aus dieser Geschichte. Die junge Generation kann nur erahnen, was für ein Glück es ist, in einem Land zu leben, in dem seit 77 Jahren kein Krieg mehr herrscht. Wo sie in der Nacht in Ruhe schlafen können, wo sie nicht nach etwas zu Essen suchen müssen, wo sie nicht angstvoll in den Himmel schauen müssen, wo sie nicht in Sorge um ihre Angehörigen sein müssen haben, wo sie sich sicher fühlen können.

Umso erschütternder sind die Bilder der vergangenen Tage, die uns aus der Ukraine erreichen. In Europa herrscht wieder Krieg und Angst. Keiner kann so richtig begreifen, dass wir im 21. Jahrhundert einen Krieg auf europäischem Boden miterleben müssen.

Unser Mitgefühl und unsere Solidarität gelten den Menschen in der Ukraine. Erst vor wenigen Wochen habe ich den Oberbürgermeister von Melitopol, Ivan Fedorov im Chemnitzer Rathaus zu Gast gehabt und kennengelernt. Wir sprachen über ukrainische Ärztinnen und Ärzte, die nach Chemnitz kommen und sich weiterbilden. Wir redeten über den Nahverkehrsplan und machten uns Gedanken über den Schüleraustausch zwischen beiden Städten. Das alles ist jetzt nicht mehr wichtig.

Denn jetzt kämpfen Ivan Fedorov und die Bürgerinnen und Bürger seiner Stadt um ihr Land, ihre Stadt und ich Leben. Er ist nur eins der vielen Gesichter dieses Krieges. Aber er und seine Bürgerinnen und Bürger sind mir durch das persönliche Treffen ganz besonders nahe. Absolut unvorstellbar.  

Donnerstag vergangene Woche lässt Wladimir Putin die gesamte Ukraine angreifen. Seine Panzer umzingeln die Städte, dieser Kriegstreiber lässt Wohnblöcke mit Raketen beschießen, er lässt die Heimat von unzähligen Menschen in Rauch aufgehen. Die Leben von unschuldigen Zivilisten scheinen ihm vollkommen egal zu sein.

Familien werden getrennt, Kinder müssen sich von ihren Vätern verabschieden, Frauen von ihren Ehemännern.

Sie alle stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Die Narben der Überlebenden bleiben ein Leben lang. Jedes Opfer ist eines zu viel.
 

[Anrede],

man darf nach wie vor die Ereignisse um 1945 nicht vergessen, um nicht gleichgültig gegenüber kriegerischen Ereignissen zu werden. Egal, wo auf der Welt Menschen gegeneinander kämpfen oder geschossen wird. Es ist immer die Zivilbevölkerung, die das Leid ertragen muss, besonders die Kinder, denn in ihren Köpfen brennen sich die Erlebnisse noch viel tiefer ein. Deshalb dürfen wir den Krieg nie vergessen. Das müssen wir immer wieder erzählen.

Es liegt in unser aller Hände, wie unsere Welt in Zukunft aussieht.

Angesichts der weltpolitischen Situation ist der diesjährige Friedenstag ein besonderer Tag. Heute Abend muss von Chemnitz ein Friedenssignal ausgehen. Ein Signal, dass Frieden zu keiner Zeit eine Selbstverständlichkeit ist.
 

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