Man muss brennen für die Stadt

Stefan Weber

Macher der Woche vom 17. September 2014

Wohl kaum ein Chemnitzer ist so häufig fotografiert und gefilmt worden. Mit seinen fundierten Kenntnissen zur Historie der Stadt wurde und wird er als kompetenter Gesprächspartner von Gästen, Einheimischen und Medien geschätzt und seine Führungen sind einfach ein Erlebnis. Der Türmer Stefan Weber ist ein Chemnitzer Urgestein und ein Unikat, der seine Leidenschaft lebt. Viele Jahre wohnte er sogar in einem der wohl markantesten Chemnitzer Türme. In unseren Augen ist es an der Zeit, dass der 72-Jährige, der heute seinen Geburtstag feiert, Macher der Woche wird. 


Wie kam es, dass Türme Sie so faszinieren?
Stefan Weber:
Schon als Kind war ich interessiert an Türmen, Uhren, Glocken. Das ist mir in die Wiege gelegt worden. Mit vier Jahren, aus dem Fenster blickend – in einer ziemlich hohen Lage – zählte ich alle Türme. Ich kannte auch alle beim Namen. Nach dem Krieg war es dann besonders schlimm für mich. Mit der Zerstörung verschwanden viele Türme aus dem Stadtbild. Das schnitt mir tief ins Herz. Ich fing dann mit sammeln an – alles, was das alte Chemnitz anbelangte.

Und wie kam es, dass Sie dann in einen Turm gezogen sind und Türmer wurden?
Das war ein Glücksgriff. Es gab zu DDR-Zeiten wenig Wohnraum. Wenn man als Alleinstehender das Elternhaus verlassen wollte, war es nicht leicht eine zu bekommen. Ich war Mitglied im Schlosskirchenchor. Das war und ist ein bedeutender Chor in der Stadt. Nach einer Probe im Sommer wurde gerne irgendwo eingekehrt. Wie das halt so ist, war durch das Singen die Kehle trocken. (Lacht) So saßen wir an einem Abend im Biergarten des Miramars und ich erblickte Licht oben im Turm der Schlosskirche. Das muss ja romantisch sein, dort oben zu wohnen, dachte ich. Meinen Gedanken ausgesprochen, sagte der Kantor neben mir: Herr Weber, kein Problem. Die Dame, die noch drin wohnt, zieht nächste Woche aus. Wir brauchen jemanden. So hat sich das ergeben und ich bin 1970 mit allen Pflichten in den Schlosskirchenturm eingezogen. Ich habe dann 37 Jahre im Turm gewohnt und gearbeitet. Aus dieser Situation ist dann der Türmer ewachsen. Man kann sich nur als Türmer bezeichnen, wenn man auch darin wohnt – alleine der Hut und der schwarze Mantel machen es nicht.

Was waren das für Pflichten?
Was so alles notwendig war: Die Uhr mit der Hand aufziehen. Wenn die Motoren der Glockenuhr kaputt waren, habe ich mich auch an die Stricke gehängt.

Die Schlosskirche war bis 2007 sein Zuhause und sein Arbeitsplatz. Mit 65 Jahren dachte sich Stefan Weber, einen „großen Schnitt im Leben“ zu machen. 2007 zog er aus dem Turm der Schlosskirche in eine Wohnung im Schlossviertel. „Da weiß man nicht wie lange es noch geht, du kannst mal krank werden oder mit den Beinen kann was sein – du kommst dort nicht mehr hoch und runter. Gleichzeitig bin ich in den offiziellen beruflichen Ruhestand eingetreten.“

37 Jahre im Turm der Schlosskirche. Das können sich nicht viele vorstellen.
Wenn man in der DDR erwachsen geworden ist, unter Wohnungsmangel, ohne großartigen Luxus und man musste sich einschränken, waren die eigenen vier Wände ein Gewinn. Ich habe angefangen mit geschenkten Möbeln. Das sah aus wie eine bunte Stube. Aber man hatte erst einmal was. Im Winter war manchmal das Wasser weg. Da hatte ich keinen Tropfen Wasser. So bin ich mit Eimern und Behälter ins Miramar und habe mir Wasser geholt, damit ich mir wenigstens mal einen Kaffee kochen konnte. Die Kohlen mussten hochgeschleppt werden und gelegentlich war die Toilette auch gefroren. Aber es war eine Einrichtungssache. Wenn man heute Geld hat, dann kann man sich selbst in so einem Kirchturm Luxus leisten und den ausstatten. Damals war es spannend, romantisch und außergewöhnlich. Zudem hatte ich ein Dach über dem Kopf.

Am 1. Juni 1990 bekam die Stadt ihren ursprünglichen Namen Chemnitz zurück. „Darüber freue ich mich immer noch“; erzählt Stefan Weber.  Ein Ereignis bei dem der Türmer nicht ganz unbeteiligt war. Er war in einer kleinen Bürgerbewegung von sechs Leuten, die auf den Montagsdemonstrationen den Stadtnamen Chemnitz zurückforderten.

Neben der politischen Wende und der Rückbenennung des Städtenamens war 1990 auch ein besonderes Jahr für Sie?
Ich war Mitglied im Heimatverein und regte an, dass man doch in dem Rathausturm, in dem in alter Zeit der Türmer lebte, diese Tradition für Chemnitz wieder einführte. In dem gleichen Jahr habe ich angefangen und wurde 1991 als Türmer von der Stadt fest eingestellt. Das war einmalig in Deutschland, dass die Verwaltung eine Stelle schuf, um Tradition zu pflegen. Ich begleitete dann Protokollveranstaltungen. Wenn sich jemand in das Goldene Buch eintrug oder Besuch erwartet wurde,  führte ich den durch das Rathaus.

Sie haben dann auch „pädagogische Dienste“ in Form von Heimatkundeunterricht gehalten?
Ich habe zig Schulklassen durch das Rathaus auf den Turm geführt und Stadtgeschichte weitergegeben. Das war eine entscheidende Arbeit nach der Wende. Mit dieser Stelle wurde eine Lücke geschlossen. Mittlerweile gibt es eine derartige Stelle in jeder größeren Stadt. Ganz wichtig: All die Jahre seit der Wende habe ich eine große Unterstützung der Stadtverwaltung genießen dürfen. Das ist ziemlich einmalig und da beneiden mich auch meine Kollegen in ganz Europa.   

Nächstes Jahr feiern Sie 45 Jahre als Türmer. Was waren Ihre schönsten Jahre?
Für mich waren die Jahre nach der Wende ganz außergewöhnlich. Das war ein toller Aufbruch. Und dann kam noch der Stadtname zurück. Der Elan und die Stimmungen waren enorm. Da gab es einen richtigen Schub für die Stadt. 

Er kennt die Geschichte der Stadt aus dem Stehgreif. „Ich kann nicht mit zehn Büchern zu einer Stadtführung gehen. Wie sieht denn das aus“, sagt Stefan Weber schmunzelnd. Wie aus der Pistole geschossen, hat er Jahreszahlen parat, ist stets gut aufgelegt, erzählt Anekdoten, die in keinem Geschichtsbuch stehen oder fängt an zu reimen: „Der Herr Gott schütze unsere Stadt vor allem Unglück und vor böser Tat. Bewahre er euch vor großem Leid, vor Krankheit, Krieg und teurer Zeit.“

Welche Eigenschaften muss ein Türmer mitbringen?
Man muss Lokalpatriot sein, für die Stadt brennen. Das ist wichtig. Zuverlässig sollte man sein. Es ist nie was ausgefallen in all den Jahren, denn krank war ich nicht.    

Haben Sie einen Lieblingsblick vom Rathausturm aus?
Eigentlich die ganze Runde. Wenn ich aus der Tür trete, schaue ich zum Sonnenberg. Da sehe ich die Markuskirche mit ihren zwei schönen Spitzen. Ich schaue auch gerne zu unserem bunten Schornstein. Allein die Blickrichtung zum Schornstein: Vom Turm, über das Rathaus zum Düsseldorfer Platz, über das Gebäude der Stadtverwaltung, die Stadthalle, das Hotel Merkur. Die verschiedenen Architekturformen aus verschiedenen Zeiten sind so vielfältig.

Wo liegen die Stärken von Chemnitz?
Die Stadt ist spannend und steht zu ihren Brüchen. Es wird nichts rund gemacht in der Stadt. Sie ist so wie sie ist.  Das ist eine Stärke. Wir müssen uns nicht verbiegen. Auch die Vergleiche mit anderen Städten brauchen wir nicht. Wir sind Chemnitz und die Stadt ist so. Und wenn wir uns dieser Stärke bewusst sind, dass es Ecken und Kanten gibt, dann ist die Stadt spannend. Ist doch langweilig, wenn eine Stadt korrekt und bis auf das letzte Detail verplant ist. Wir haben noch Freiräume in Chemnitz, es gibt noch Plätze, die bebaut werden können. Im Gegensatz zu anderen Städten, die bei einem Neubau erst was wegreißen müssen.

Was sagen die Gäste, die auf dem Turm stehen?
Ich führe seit 24 Jahren die Leute auf den Turm. Der Grundtenor ist Erstaunen. Sie sagen dann: Das hätten wir nicht gedacht. So eine grüne Stadt, alles sauber und ordentlich. Die Stadt ist eine Überraschung für die Leute. Die erwarten es nicht. Das ist auch meine Aussage. Man kommt nach Dresden oder Leipzig – da weiß man was einen empfängt. Das wird auch in den Reiseführern so vorgestellt. Wer macht uns denn großartig bekannt? Das vermiss ich in den Medien, dass Chemnitz immer beiseite gerückt wird. Und wenn die Leute dann zu uns kommen, haben sie keine Erwartungen und sind überrascht über die Stadt.

Steht in Reiseführern nichts über Chemnitz?
Ich schaue mir die regelmäßig an und bin sehr enttäuscht, dass wir nicht so viele Zeilen wie andere Städte haben. Es gibt doch so viel Tolles an Museen hier. Welche „Industriestadt“ bietet so eine Vielfalt an Kultur. Chemnitz bietet das und war keine Residenz, sondern macht das aus eigener Kraft und Leistung. Das sind Stärken, die die Stadt hat und darauf kann man stolz sein.

Was ist Ihr Lieblingsgebäude in Chemnitz?
(Wie aus der Pistole geschossen) Ganz klar das Rathaus. Ich bin hier gerne und das sogar öfter als zuhause. Die komplette Ausstellung, die hier oben steht, habe ich zusammengestellt. Ich lebe einfach meinen Beruf und kann mir ein Dasein ohne ihn bzw. ohne dieses Gebäude nicht vorstellen. Das klingt verrückt, aber so fühle ich mich wohl.

Wie viele Touristen haben Sie hier hoch gebracht?
(Überlegt): Das liegt auf alle Fälle im sechsstelligen Bereich.

Wo kamen die Touristen überall her?
Aus aller Herren Länder.

Können Sie sich an einen besonders erinnern?
Ja, ein Erlebnis ist mir im Gedächtnis geblieben. Das müssen jetzt fünf oder sechs Jahre her sein. Ein 90-jähriger Argentinier, in Chemnitz geboren, mit seinen zwei Söhnen war zu Besuch in der Stadt. Man bat mich mit ihm noch einmal den Rathausturm hinaufzusteigen. Ich dachte schon hoffentlich schafft er das. Er ging nämlich auch noch am Stock. Wir haben dann den Turm erklommen, der Herr sagte die ganze Zeit sehr wenig. Als wir auf der Kuppel waren und hinaus in den Rundlauf traten, lehnte er sich auf die Brüstung, schaute hinunter auf die Stadt und Tränen liefen über sein Gesicht. Er weinte wie ein kleines Kind. Dieser Blick muss bei ihm was ausgelöst haben, plötzlich begann er zu erzählen in dem Ur-Chemnitzer-Dialekt über die Stadt von früher. An diese Begegnung denke ich gerne zurück.

Warum führen Sie die Tätigkeit des Türmers noch ehrenamtlich aus?
Ich wollte der Stadt etwas zurückgeben. Dazu stehe ich noch heute. Ich hatte so eine gute Zeit als ich offiziell angestellt war und dafür war ich sehr dankbar. Da habe ich das Ehrenamt angetreten und betreue weiterhin die Protokollveranstaltungen und lasse die Tradition des Türmers weiterhin leben. Nebenbei führe ich noch Touristen auf den Turm, aber die meiste Zeit betreue ich das alles ehrenamtlich. Dazu stehe ich bis ich es nicht mehr kann. 

Werden Sie auf der Straße angesprochen? Sie sind ja schließlich ein städtische Persönlichkeit.
Wenn ich in meiner „Arbeitskleidung“ vom Rathaus beispielsweise zum Theaterplatz laufe, sprechen mich die Leute nicht an. Da falle ich schon gar nicht mehr auf. Aber das Verrückte - wenn ich in Zivil in der Bahn sitze oder auf der Straße laufe, dann fragen sie: Sie sind doch der Türmer Stefan Weber?

Zu seinem 70. Geburtstag 2012 hat Stefan Weber den Ehrenpreis der Stadt verliehen bekommen. Damit wurde das engagierte Wirken des heute ehrenamtlich Tätigen für seine Stadt und seine Zunft honoriert.

Sie sind der einzige „Nicht-Sportler“ in einer Liste mit Jutta Müller (Eiskunstlauftrainerin), Lars Riedel (Diskuswerfer), und Jens Fiedler (Radsportler) die den Chemnitzer Ehrenpreis verliehen bekommen haben. Was bedeutet Ihnen das?
(Lacht) Ich bin der unsportlichste Mensch überhaupt. Ich bin keiner, der an Preisen hängt. Aber innerlich freut es einen dennoch. Ansonsten sind mir derartige Ehrungen und Preise peinlich. Auf der anderen Seite ist es für mich auch eine Verpflichtung zum Weitermachen.  Ich werde mich ohnehin nicht darauf ausruhen. Mit dem Preis hat man mir gezeigt, dass meine Arbeit anerkannt wird und dass ich vielleicht einen richtigen Weg aufgezeigt habe. Es ist auch eine Verpflichtung. 

Apropos Weg – wie viele Stufen müssen Sie zu Ihrem „Arbeitsplatz“ zurücklegen?
Wenn die Weihnachtszeit kommt, dann werden es zwischen 8.000 bis 10.000 Stufen sein. Da sind viele Führungen, Vorbereitungen und zu den Rufen muss ich auch zur Kuppel. Früher waren es dreimal so viel, aber das ist meinem Alter entsprechend ein bisschen weniger geworden. Den Aufzug versuche ich so wenig wie möglich zu nutzen und zwischen drin anhalten ist auch nicht gut. Man sollte schon immer in Bewegung bleiben (Lacht).

Ist Wehmut dabei? Nach Ihnen kommt wahrscheinlich kein Ersatz.
Die Stadtführungen über die CWE werden angeboten. Da können auch kostümierte Touren gebucht werden. Aber ein Türmer, so wie ich, wird wohl nicht nochmal kommen. Da ist auf alle Fälle Wehmut dabei. Aber man muss schon einen kleinen Tick haben, wenn man dieses Amt sein ganzes Leben ausübt.

Unsere Standardfrage zum Abschluss: Muss man den Chemnitzern Mut für ihre Stadt machen?
Ich habe das Gefühl, dass viele Chemnitzer zu ihrer Stadt halten. Ich kenne auch viele in meiner Generation, die stolz sind auf ihre Stadt und davon schwärmen. In meinem Ehrenamt lerne ich auch ehemalige Chemnitzer kennen, die die Stadt besuchen und ein Herz für sie haben. Ich weiß auch nicht woran es liegt. Ob wir von außen ein wenig gedemütigt und gebremst werden? Eigentlich haben wir es nicht notwendig. Und wenn die Stadt weiterhin eine gute Entwicklung nimmt, sei es mit Arbeitsplätzen, mit der ansässigen Industrie, die wächst, kommt automatisch das Selbstbewusstsein wieder.

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