Chemnitzer Zeitzeugen: Karlheinz Reimann
Bereits am 14. Februar war das Haus meiner Kindheit, Beethovenstraße 46, als einziges in einiger Umgebung von einer Sprengbombe getroffen und weitgehend zerstört worden. Zum Glück war von uns an diesem Abend dort niemand anwesend. Auch die Hausbewohner, die sich während des Angriffs im Luftschutzkeller aufhielten, haben alle überlebt.
Den Angriff am Mittag des 5. März habe ich noch in Erinnerung, als meine Mutter mit mir ihre Schwester im Zeisigwald besucht hat. Sie wohnte in dem neben der Einfahrt zu den Steinbrüchen heute unter Denkmalschutz stehenden „Porphyr-Haus“, das der Steinbruchbesitzer Otto 1869 hatte errichten lassen. In einer Gruppe von Menschen, darunter auch einige vermutlich abgeschossene Amerikaner unter Bewachung (als Kind für mich besonders aufregend!), suchten wir alle Schutz unter den gemauerten Bögen am Zugang zu den Steinbrüchen, den sogenannten „Teufelsbrücken“ – welch ein schlimmer Irrtum! Wenn auch nur in der Nähe Bomben gefallen wären und den Erdboden erschüttert hätten, wären wir von den Trümmern der einstürzenden Bögen wahrscheinlich erschlagen worden.
An diesem Abend sind wir mit einem Bus der KVG (Kraftverkehrsgesellschaft) vom Bahnhofsvorplatz nach Kleinolbersdorf zurückgefahren. Es war bereits völlig dunkel, der Busfahrer konnte sicher nur wenig sehen, denn die Scheinwerfer mussten bis auf einen schmalen Schlitz abgeklebt werden. Auf der Zschopauer Straße vor den „Neuen Schänken“ musste der Bus über die Cervantesstraße nach Adelsberg ausweichen, denn die Zschopauer Straße war verschüttet. Der rote Ziegelbau der Maschinenbaufabrik – hier befindet sich heute eine Tankstelle - lag vom Mittagsangriff in Trümmern über die ganze Straße. Über die Hermersdorfer Straße gelangte der Bus wieder auf die Zschopauer Straße, um an der Gaststätte „Erholung“ nach Kleinolbersdorf zu fahren. Diese Straße war damals noch sehr schmal. Vor der Siedlung Gartenstadt kam dem Bus ein LKW ebenfalls mit abgeklebten Scheinwerfern entgegen. Man konnte nicht aneinander vorbei, die beiden Fahrer diskutierten lange, wer zurückfahren sollte. Meine Mutter entschied, dass wir aussteigen und zu Fuß nach Hause gehen. Wir waren noch nicht im Haus, als über Chemnitz der Himmel hell erleuchtet war – überall „Christbäume“ über dem Stadtzentrum! Eilig begaben wir uns in unseren Keller und erlebten hier mit Abstand bis nach Mitternacht, wie Chemnitz im Bombenhagel in Schutt und Asche fiel.
Zu meinen Kindheitserinnerungen in Kleinolbersdorf gehört, dass nach dem stundenlangen Getöse von Bombeneinschlägen und Bangen in unserem Keller noch in der Nacht die Mutter mit mir an der Hand zur Zschopauer Straße gelaufen ist, um auf unsere Stadt zu schauen. Auch außerhalb der glühendrot erleuchteten Stadt Chemnitz war die Luft frühlingshaft lau und der neu gefallene Schnee überall mit Rußflocken und verkohltem Papier bedeckt. Viele Menschen, oft mit geschwärzten Gesichtern und Brandgeruch an den Kleidern, die in der Stadt alles verloren hatten und froh waren, noch am Leben zu sein, erreichten in der Morgendämmerung Ortschaften in der Umgebung, um für Tage oder Wochen eine Bleibe zu suchen. Auch meine Mutter nahm damals ein ausgebombtes Ehepaar, das uns am Ende der Nacht zum 6. März mit wenigen geretteten Habseligkeiten auf einem Handwagen erreichte, für zwei Wochen bei uns auf. Zwei Tage nach dem Angriff waren in Chemnitz noch immer nicht alle Brände gelöscht. Erinnerungen an Erlebnisse meiner Kindheit im Krieg haben mich veranlasst, über die Bombenangriffe auf Chemnitz zu recherchieren und für Nachgeborene aufzuschreiben in der Hoffnung, dass sich für sie eine solche Tragödie niemals wiederholt.