Rede zur Kranzniederlegung anlässlich des Gedenkens an die Opfer der Reichspogramnacht am 9. November 2022

Kranzniederlegung anlässlich des Gedenkens an die Opfer der Reichspogromnacht am 9. November

Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Sächsischen Landtages und des Chemnitzer Stadtrates,
sehr geehrter Frau Dr. Röcher,
liebe Mitglieder der Jüdischen Gemeinde,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schülerinnen und Schüler,

der 9. November ist ein Datum, das untrennbar mit unserer Geschichte verbunden ist: Heute vor 84 Jahren erreichte der Hass und die Gewalt gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland einen vorläufigen traurigen Höhepunkt. In der Nacht zum 10. November wurden hunderte Synagogen und Friedhöfe angezündet und geschändet, tausende Geschäfte zerstört und zehntausende Menschen in Konzentrationslager verschleppt, wo sie anschließend gequält und getötet wurden.

Auch in Chemnitz fiel die Synagoge den Flammen zum Opfer. Genau an dieser Stelle – entzündet von Nationalsozialisten. Und auch in Chemnitz wurden in dieser Nacht Menschen jüdischen Glaubens aus ihren Häusern gezerrt und verschleppt. Nur Vereinzelte kehrten jemals zurück. Alle konnten das sehen. Doch nur ganz wenige halfen ihren Mitbürgern dabei, Schutz vor den Nationalsozialisten zu finden. Die große Mehrheit schaute weg, schwieg, verdrängte.
 

[Anrede],

heute erkennen wir leider Parallelen. Es gibt wieder rassistische und antisemitische Gewalt in unserem Land und anderen Ländern Europas. Antisemitismus gehört in Deutschland leider noch immer zum Alltag. Das Bundesinnenministerium zählte für 2022 bereits mehr als fünf antisemitische Straftaten pro Tag. Im laufenden Jahr wurden schon mehr als 1500 antisemitische Straftaten erfasst.

Wo zu Gewalt gegen politische Gegner aufgerufen wird, wo schutzbedürftige Menschen von sogenannten „besorgten Bürgern“ gezielt als „Asylschmarotzer“ diffamiert werden, entsteht nicht nur ein Klima der Ausgrenzung und der Angst. Dort wird der Boden bereitet für Feindschaft und Gewalt, die in Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte, Asylbewerber und ehrenamtliche Helfer gipfeln.

Wir erleben eine Verrohung in der Gesellschaft – in der Sprache, in Gedanken, Diskussionen und Debatten. Und, immer häufiger, auch in Taten. In Zeiten der Krisen werden jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger häufig zum Sündenbock gemacht. Die Worte aus dem Talmud (eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums) sind deshalb so einfach und zugleich weitsichtig:

Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
 

[Anrede],

als die Synagoge hier an diesem Ort 1899 feierlich geweiht wurde, war das ein Bekenntnis der jüdischen Bürger zu ihrer Heimatstadt Chemnitz. Angekommen, um zu bleiben.

Niemand hat sich damals vorstellen können und wollen, dass nur wenige Jahre später ein solcher Hass möglich und gesellschaftsfähig wird.

Die jüdischen Bürger der Stadt waren, Ärzte, Unternehmer, Handwerker, Schülerinnen und Schüler in Chemnitzer Schulen Architekten, hatten große Kaufhäuser und kleine Läden, waren Künstler, Kollegen, Nachbarn.

39 Jahre nachdem die Synagoge geweiht wurde, stand sie in der Nacht vom neunten zum zehnten November in Flammen. Angezündet von fanatischen Nationalsozialisten.

Und kaum jemand in Chemnitz und kaum jemand in den vielen anderen Städten, in denen Synagogen brannten, hat sich nach dem Pogrom schützend vor die jüdischen Bürger gestellt.

Es war der Anfang eines Menschheitsverbrechens, das die Deutschen begangen haben. Sechs Millionen Juden wurden in Europa um ihr Leben gebracht. Misshandelt, deportiert, erschossen, vergast.

Einige wenige Chemnitzer Juden sind nach dem 2. Weltkrieg zurückgekommen. Sie haben dafür gesorgt, dass jüdisches Leben in unserer Stadt nicht ganz ausgelöscht ist.

Ihnen verdanken wir, dass nach 1990 Chemnitz zum Ort jüdischer Zuwanderer wurde. Chemnitz, Heimat für jüdisches Leben. Das sage ich als Oberbürgermeister mit Stolz.
 

[Anrede],

in diesem Jahr begingen wir 30 Jahre Tage der jüdischen Kultur in Chemnitz UND 20 Jahre Synagoge auf dem Kapellenberg. Wir feiern das jüdische Leben in unserer Stadt. Angekommen, um zu bleiben. Die große und aktive jüdische Gemeinde und das jüdische Leben sind selbstverständlich in Chemnitz. Ein Bekenntnis zu Chemnitz.

Es gehört auch zur Selbstverständlichkeit dazu, dieses Bekenntnis zu erwidern. Jeden Tag, nicht laut, aber offen und interessiert. Am 26. Oktober war für uns, war mich ein besonderer Tag: Die Städtepartnerschaft mit Kirjat Bialik wurde formell bekundet. Eine Freundschaft, die aber schon seit vielen Jahren existiert.

Und genau solche Freundschaften wie diese werden nicht nur im Wissen um die eigene Geschichte, sondern vor allem auch mit dem Blick auf die Zukunft geschaffen. Für heutige und zukünftige Generationen, die ihre eigenen Wege suchen und finden und dabei immer auch das Gemeinsame, das Verbindende in den Mittelpunkt stellen. Denn dieses Verbindende zu sehen, es zu erhalten und zu pflegen, ist Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in der Welt. Das wird uns gerade in der aktuellen Zeit wieder schmerzhaft vor Augen geführt.   
 

Liebe Chemnitzerinnen und Chemnitzer,

wir müssen widersprechen. Immer dann, wenn Grundwerte unseres gemeinsamen Lebens, wenn Anstand und Menschlichkeit in Frage gestellt werden. Wo Menschen herabgewürdigt, beleidigt oder bedroht werden, dürfen wir auf gar keinen Fall wegsehen.

Wir entscheiden, wie wir zusammenleben, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Wir gestalten unser Land, unsere Stadt für die Zukunft. Es liegt an uns, Unrecht nicht wieder zuzulassen und für Werte wie Freiheit, Demokratie und Geleichbehandlung zu streiten.

Wir alle sind gefordert, gemeinsam dafür zu sorgen, dass ein Leben in friedlicher Gemeinschaft in Chemnitz möglich ist.

Am besten erreichen wir dies, wenn wir darüber sprechen, um gemeinsame Antworten gegen Fremdenhass und Antisemitismus zu finden und zu leben.

Deshalb freue ich mich, dass Sie heute hier sind. Danke dafür.


(Es gilt das gesprochene Wort)
 

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