Begegnungen bauen Vorurteile ab

Dr. Ruth Röcher

Macherin der Woche vom 20. Mai 2022

1998 wurde der Architekt Alfred Jacoby mit dem Bau einer neuen Synagoge auf dem Kappellenberg an der Stollberger Straße 28 beauftragt. Die alte, zwischen 1897 und 1899 am Stephanplatz erbaut, setzten die Nazis in der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 in Brand und zerstörten sie dabei völlig. Fast auf den Tag genau heute vor 20 Jahren, am 24. Mai, erhielt die Jüdische Gemeinde Chemnitz in einer bewegenden Feierstunde ihr neues Gotteshaus. Die errichtete Synagoge bietet 300 Besucherinnen und Besucher Platz und ist auch Sitz der Gemeinde. Eigentlich ein Anlass zum Feiern. Warum es aber nicht dazu kommt, verrät Dr. Ruth Röcher, Vorsitzende der Gemeinde. 


In diesem Jahr jährt sich der Bau der neuen Synagoge zum 20. Mal – ein Grund zum Feiern. Was haben Sie geplant?
Ja, das ist ein schönes Jubiläum. Aber wir werden nicht feiern können, weil die Sanierungsarbeiten im Haus immer noch laufen. Das ist wie die endlose Geschichte: Als ich 2006 die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde wurde, war mein erster wichtiger und zugleich schwerer Gang der zu einem Rechtsanwalt. Die Mängel in dem Haus waren gravierend und die Garantie lief in drei Monaten aus. Das war kein schöner Start, zumal ich bis dahin keine Erfahrungen mit Rechtsanwälten hatte. Ein achtjähriger Prozess gegen die Baufirma und den Architekten begann. 2014 hat die Richterin uns dann empfohlen, den Prozess zu beenden und einen Vergleich anzustreben. Dem haben wir zugestimmt.

Im Oktober 2019 griff ein junger Deutscher die Synagoge in Halle an. Sofort nach dem Attentat hat die Gemeinde einen Brief des Sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und des Kultusministers Christian Piwarz erhalten. Beide äußerten sich besorgt zur Sicherheit der Jüdischen Gemeinden in Sachsen. Sie wollten alles dafür tun, dass sich die Situation ändert. Alle anderen Landesregierungen hatten solche Schreiben ebenfalls an die Gemeinden in ihren Ländern geschickt. Gemeinsam mit dem Bund wurde die Sicherheit in den einzelnen Jüdischen Gemeinden untersucht. Anfang 2020 lag ein Konzept darüber vor, was sich alles baulich ändern muss. Das musste der Vorstand der jeweiligen Gemeinde absegnen. „Wir sind dann der Empfehlung gefolgt“, so Röcher. Jetzt sollen beide Maßnahmen, die bauliche Anpassung und die Sanierung, parallel laufen. 

Bei diesen Maßnahmen, die zum Schutz des jüdischen Lebens beitragen sollen, stellt sich die Frage: Ist jüdisches Leben Normalität in Deutschland?
Das ist eine große Frage über die wir viel mit Familie und Freunden diskutieren. Da wir wissen, wie jüdisches Leben außerhalb von Deutschland funktioniert, verschärft das die Diskussion. Wenn man beispielsweise sieht, wie jüdisches Leben in den USA funktioniert, von Israel ganz abgesehen. Meine Antwort auf diese Frage lautet: Wir befinden uns 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Alltag zeigt, dass Normalität nicht da ist. So viele Deutsche haben Bedenken, das Wort Jude überhaupt auszusprechen.
Die Herangehensweise unserer Gemeinde an das Thema ist, sich zu öffnen, für Schüler, für andere Gruppen, weil wir denken, dass Begegnungen Vorurteile abbauen und Wissen schaffen. Beispielsweise auch mit den Tagen der jüdischen Kultur, die jetzt stattfinden, oder mit Konzerten, die wir in unserem Haus anbieten. Vor der Corona-Pandemie haben wir außerdem Tagungen für Lehrerinnen und Lehrer sowie für Schulleiterinnen und Schüler veranstaltet.
Ich denke, dass ein Kind, das hier war und Juden gesehen, mit ihnen gesprochen und zugehört hat, weniger anfällig für Vorurteile ist. Es ist nur ein kleiner Beitrag, den wir leisten können, weil Antisemitismus häufig zu Hause am Küchentisch entsteht, zu dem wir keinen Zugang haben.

Die Corona-Pandemie scheint antisemitische Vorurteile und Judenhass noch einmal befeuert zu haben. Wie erleben Sie das?
Es kann daran liegen, dass ich eine große Optimistin bin, die seit über 45 Jahren als Jüdin in Deutschland lebt. Ich betrachte die Gesellschaft ein wenig differenzierter. Die Personen, die mit einem gelben Stern gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren, zeigen, dass sie keine Geschichtskenntnisse haben. Ihre Ahnungslosigkeit stellen sie mit solchen Aktionen zur Schau. Aber das ist nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Das ist eine kleine Gruppe. Was mir größere Sorgen bereitet, ist die schweigende Mehrheit. Das ist eher mein Problem. Denn wir Juden fühlen uns durch die veränderte politische Landschaft, durch den Rechtsruck in Deutschland ernsthaft bedroht. Das scheinen viele nicht so wahrzunehmen. 

Sehen Sie eine Möglichkeit, diese schweigende Mehrheit zu erreichen?
Ich habe auch kein Patentrezept. Ich denke, jeder sollte sich engagieren, in dem Kreis, in dem er lebt. Nicht viele machen sich etwas aus Politik. Sie denken vielleicht, dass es immer so ein Paradies bleiben wird, in dem wir leben. Vielleicht rüttelt sie der Krieg in der Ukraine wach: dass Frieden ein hohes Gut ist, das wir schützen müssen.

Gemeinsam mit dem Oberbürgermeister Sven Schulze und einer Delegation aus Chemnitz haben Sie Anfang Mai die israelische Stadt Kiryat Bialik besucht, um eine mögliche Städtepartnerschaft voranzubringen. Denken Sie, dass diese Städtepartnerschaft das jüdische Leben in Chemnitz stärker ins Bewusstsein holt?
Zuerst möchte ich sagen, dass ich sehr glücklich bin, dass diese Gespräche zwischen Chemnitz und Kiryat Bialik stattfinden und beide Städte einer Partnerschaft offen gegenüberstehen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Rafael Wertheim, der sich seit vielen Jahren in Chemnitz engagiert und aus Kiryat Bialik stammt, haben wir viel für diese Verbindung getan.
Dieser Schritt, den Chemnitz jetzt mit der Partnerschaft angeht, ist großartig. Und er ist gut, nicht nur für uns als Jüdische Gemeinde. Es ist gut für die Stadt und ihre Bevölkerung. Denn solche Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen baut Vorurteile ab.

Israel ist für viele Menschen ein Reiseziel. Aber es schwingen immer Bedenken mit, dass irgendwas passiert. Kurz nach Ihrem Aufenthalt in Kiryat Bialik gab es einen tödlichen Anschlag in einem Vorort von Tel Aviv, bei dem drei Menschen getötet und vier weitere verletzt wurden.
Die Bedenken kann ich verstehen. Es kann immer etwas passieren. Das ist leider so. Es gibt Menschen in Israel und aus der arabischen Bevölkerung, die radikal sind. Das ist eine Minderheit und nicht die Mehrheit. Wer einmal in Israel ist, denke ich, den überrascht die Herzlichkeit der Menschen miteinander, die Ungezwungenheit und die Offenheit. In Israel lebt ein sehr wache Gesellschaft, die über alles diskutiert. Es würde der Bevölkerung in Chemnitz guttun, Israel nicht nur aus den Gesichtsbüchern und aus dem Fernsehen kennenzulernen.

Haben Sie Zulauf an Mitgliedern durch den Krieg in der Ukraine?
Wir haben geringen Zulauf. Aber dass wir dadurch gewachsen sind, kann man nicht sagen. Zahlenmäßig sind wir eher gesunken. Wir haben sehr viel ältere Menschen und irgendwann sterben sie. Es ist etwas, das alle Jüdischen Gemeinden in Deutschland betrifft. Der große Zulauf kam Anfang der 1990ger-Jahre durch jüdischen Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion.
Die Integration war sehr schwierig und ist es heute noch: Viele haben bis heute nicht die deutsche Sprache gelernt. Obwohl wir hier jahrelang zusätzlich gerade für die Älteren Deutschunterricht angeboten haben. Ich kenne auch viele, die sich bemüht haben, die deutsche Sprache zu lernen, aber es leider nicht geschafft haben.
Diese Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion kamen mit sehr wenig. Man muss wissen, dass Juden in dem Land nicht akzeptiert und benachteiligt wurden. Juden versuchten ihre Identität zu verheimlichen, in den Geburtsurkunden das Wort Jude zu entfernen. Die Mehrheit der Zuwanderer ist groß geworden, ohne überhaupt Judentum zu erfahren oder zu wissen, dass sie Juden sind. Sie kamen mit negativen Erfahrungen, weil beispielsweise die Universitäten Zugangsvoraussetzungen ähnlich denen der Nazizeit hatten. Da durften nur ein bestimmter Prozentsatz der Studenten Juden sein. Deshalb sprechen wir bei den immigrierten Juden von doppelter Integration. Zweigleisig: einmal die Integration in die deutsche Gesellschaft und die zweite Integration in die jüdische Religion. Mit dieser Gruppe von Menschen eine jüdische Religionsgemeinde aufzubauen, ist schon sehr schwer. Zum Fall der Mauer gab es hier zwölf Juden. Dann kamen mehr und mehr, sodass wir ca. 600 Mitglieder erreicht haben. Aktuell sind wir etwa bei 530. 

Seit 1991 finden in Chemnitz die Tage der jüdischen Kultur statt. Sie wurden vom 2004 verstorbenen Pfarrer der Pauli-Kreuz-Kirchgemeinde, Mathias Wild, ins Leben gerufen. Er hatte es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht, das Festival zu einem festen Bestandteil des Chemnitzer Kultur- und Geisteslebens werden zu lassen. Das Kultur-Festival wird vom Verein Tage der jüdischen Kultur in Chemnitz e.V. in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde, dem Evangelischen Forum Chemnitz und dem Bürgerverein FUER CHEMNITZ e.V. ausgerichtet. Die Tage der jüdischen Kultur befördern mit ihrer kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Ausrichtung Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Lebensformen.

Noch bis zum 5. Juni finden die Tage der jüdischen Kultur in Chemnitz statt. Inzwischen zum 31. Mal. Ist das ein Alleinstellungsmerkmal für Chemnitz?
Die Tage der jüdischen Kultur sind eine großartige Sache. Keine sächsische oder sogar ostdeutsche Stadt kann ähnliches vorweisen. Wir begehen in diesem Jahr das 31. Festival. Und dies ist ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Christen und Juden. Bis heute ist die evangelische Kirche mit ihrem Forum ein enger Partner der Tage der jüdischen Kultur. Wir haben immer Unterstützung christlicher Gemeinde bekommen. Das Fest ist in den vergangenen Jahren auch stetig gewachsen. Begonnen haben wir mit fünf Tagen. Heute füllen wir zwei Wochen mit 70 bis 80 Veranstaltungen und haben dafür extra einen Verein gegründet, der mit fast allen Kultureinrichtungen der Stadt zusammenarbeitet.

Sie haben 2006 das Amt der Vorsitzende von Sigmund Rotstein übernommen, der im August 2020 leider verstorben ist. Er hat die Gemeinde 40 Jahre lang geleitet. Schaffen Sie das auch?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Das schaffe ich nicht. Es ist zeitlich sehr schwer, ehrenamtlich die Gemeinde zu leiten. Seit zwei Jahren bin ich Rentnerin, was es ein wenig einfacher macht. Aber ich weiß nicht, ob ich noch vier Jahre durchhalte. (lacht)

Sie wurden 1954 in Israel geboren und sind seit 1976 in Deutschland – erst Nordrhein-Westfalen und nach der Wende in Sachsen. Wie kamen Sie nach Sachsen.
1988 bekam ich die Genehmigung, als Studentin in Potsdam im zentralen Staatsarchiv an meiner Doktorarbeit zu arbeiten. Ich war dort drei Wochen. Das war meine erste Begegnung mit der DDR. Im Sommer 1989 fragte mich die Jüdische Gemeinde in Westberlin, ob ich bereit wäre, Kinder aus den Jüdischen Gemeinden in der DDR während ihres Sommerlagers auf die Ferieninsel Rügen zu unterrichten. In dieser Zeit habe ich viele Entscheidungsträger der Jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland kennengelernt. Es war sehr interessant. Tagsüber habe ich mit den Kindern gelernt und abends mit den Eltern und Großeltern gesprochen, die mir von ihrem Leben erzählten. Im November 1989 fiel dann die Mauer und mein Mann pendelte als zwischen Nordrhein-Westfalen und der ehemaligen DDR. Da das auf Dauer sehr belastend war, entschieden wir uns, in die neuen Bundesländer zu gehen. So schrieb ich an Siegmund Rotstein, den ich von dem Rügen-Aufenthalt kannte. Er versprach mir eine Stelle als Religionslehrerin, die ich sehr gerne angenommen habe. Und so bin ich nun seit 28 Jahren hier in Chemnitz.

Von 1994 bis 2019 war Dr. Ruth Röcher die einzige Religionspädagogin für den Landesverband Sachsen der Jüdischen Gemeinden - also für die Gemeinden in Chemnitz, Dresden und Leipzig.

Haben Sie den Schritt, nach Sachsen gekommen zu sein jemals bereut?
Nein.

Wollen Sie zurück nach Israel?
Das ist eine Frage, die mich immer mal beschäftigt. Ich habe zwei Kinder, die sind in Deutschland. Deshalb muss politisch katastrophal Schlimmes passieren, dass mich zurück nach Israel gehen lässt. Sonst fühle ich mich wohl in Deutschland.

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