Die Mitte finden

Norbert Engst

Macher der Woche vom 11. November 2022

Norbert Engst ist Bauingenieur, Autor – und Botschafter. Er setzt sich dafür ein, dass das umgebaute Fritz-Heckert-Gebiet innerhalb von Chemnitz einen besseren Ruf bekommt und mehr Menschen sehen, wie besonders es ist. Dafür hat Norbert Engst ein Buch geschrieben, für das ihm zusammen mit dem Stadtarchiv Chemnitz der Sächsische Landespreis für Heimatforschung verliehen wurde. Nun hat er ein weiteres Projekt: Er hat den Mittelpunkt des ehemals drittgrößten Wohngebiets der DDR ausgerechnet. Wie es dazu kam und warum im Heckert-Gebiet und seinen Bewohnern so viel mehr steckt, als die meisten wissen, erzählt Norbert Engst im Macher der Woche-Interview.


Was hat Sie dazu bewegt, ein Buch über das Fritz-Heckert-Gebiet zu schreiben?
Norbert Engst: Ich bin dort aufgewachsen und habe in den 90ern und 2000ern den Stadtumbau-Prozess mitgemacht – rein aus Interesse am Städtebau. Den Abriss ab 2002 habe ich mit der Kamera begleitet. Es sind tolle Serien entstanden: Ein Vorher-Bild, ein Während-Bild und ein Nachher-Bild von jedem Block. Irgendwann hat mich dann interessiert: Wie kam es zum Heckert-Gebiet? Wie hat man das geplant? Welche Gedanken stecken dahinter? Mich hat fasziniert, wie es möglich ist, auf einer grünen Wiese eine Planstadt für mehrere 10.000 Leute zu bauen, die über Generationen hinweg funktionieren muss. Mich hat fasziniert, welche Gedanken sich die Stadtplaner gemacht haben: Wie muss man eine Wohnung aufbauen, die dann auf die ganze DDR bezogen millionenfach wiederholt wurde wie die WBS 70-Gebäude? Und es musste auch hier im hügeligen Karl-Marx-Stadt praktikabel sein. Gleichzeitig konnte ich das, was in der Theorie erforscht wurde, hier praktisch umgesetzt immer sehen.

Mit welchen Problemen war der Rückbau des Wohngebietes verbunden?
Norbert Engst: Mit vielen Problemen. Das erste war, dass alles wieder einmal schneller ging, als es für die Stadt gut war. Die Rahmenbedingungen wurden in Berlin gesetzt, in zweiter Instanz auf Landesebene. In Dresden musste dann relativ schnell gehandelt werden. Deshalb ist die Kommunikation mit den Bürgern unter den Tisch gefallen. Die Freie Presse hat an einem Samstag im Sommer 2002 den Abrissplan für das Heckert-Gebiet abgedruckt. An dem Tag haben zum ersten Mal viele Leute erfahren, dass ihr Block abgerissen wird. Es gab vorher keine Mieter-Diskussion, keine Beteiligung, nichts. Das hat natürlich viel Unmut hervorgebracht. Es haben sich Bürgerinitiativen gegründet, um den Ärger zu kanalisieren, aber wirklich Einfluss auf den Abriss konnten sie nicht nehmen. Die Häuser waren einfach leer. Wenn man wirklich hätte etwas tun wollen, hätte man zehn Jahre vorher anfangen müssen, am Image zu arbeiten, zu sanieren, das Umfeld zu gestalten – als die Häuser noch voll waren. Aber 2002 war es einfach zu spät.
Ein anderes Problem war, dass sich auch manche Pläne änderten. Gerade in Markersdorf Süd wurden Blöcke freigezogen, weil sie für einen Abriss vorgesehen waren. Zwei Jahre später stellte sich heraus: Der Block bleibt.

Wonach wurde ausgewählt, welche Blöcke abgerissen werden sollten und welche nicht?
Norbert Engst:
Teilweise aus erschließungstechnischen Gründen hat sich das ergeben. Die Häuser sind ja sozusagen wie in einer Reihenschaltung organisiert: Fernwärme, Strom, Wasser, Abwasser, das fließt an einer bestimmten Stelle zentral rein, dann zum nächsten Block und zum nächsten. Man hat von hinten angefangen abzureißen. So sind natürlich manchmal die schönsten Blöcke mit der schönsten Aussicht abgerissen worden, während diejenigen, die am nächsten an irgendeinem Verteiler standen, stehen geblieben sind.

Wie ist Ihr Fazit nach dem Umbau?
Norbert Engst:
Ich sehe den Umbau positiv. Heute haben wir natürlich eine viel höhere Lebensqualität. Viele Häuser sind abgerissen worden, viele andere sind saniert oder teilweise zurückgebaut worden. Die Wohndichte hat massiv abgenommen. Ich denke immer, wenn das wieder so wäre wie in den 90er Jahren, wenn alle Blöcke zurückkämen und die Blöcke so monoton grau aussähen, das wäre auch kein Lebensgefühl. Die Leute wöllten dann nicht hier wohnen.
Der Stadtumbau war insgesamt notwendig. Er war auch alternativlos. Die Leute sind nun mal weggezogen. Das Image hat sich geändert. Deswegen sind wir von 92.000 auf 36.000 Einwohner gesunken – Tendenz fallend.

Haben Sie zum Stadtumbau 2002 Interesse entwickelt oder hat Sie das ganze Wohngebiet schon immer fasziniert?
Norbert Engst:
Im Grunde ging es schon in den 90ern los, als man noch auf die Dächer aller Häuser gehen konnte. 2002 war natürlich dann der große Aufbruch: Überall Kräne, überall offene Häuser, offene Türen, offene Dächer, offene Keller. Das musste ich alles sehen. Ich war damals noch lange keine 20. Das war ein Problem, weil ich natürlich in den Häusern sofort als Kabeldieb angesehen wurde. Und ich konnte den Leuten damals ja nicht begreiflich machen: Mich interessiert wirklich nur, wie die Häuser aufgebaut sind.

Wie haben Sie es geschafft, dass es doch geklappt hat?
Norbert Engst:
Ich habe mich als Lehrling getarnt, mit Bauhose und Blaumann. Ich habe Betonfertigteilbauer gelernt und wusste, wie man sich auf dem Bau zu bewegen hat. In so einem Haus waren ja damals mehrere Gewerke tätig: Heizungsbauer, Dachdecker, Maler. Wenn ich von der Maler-Firma gefragt wurde: “Wer bist du?”, musste ich natürlich sagen, dass ich der Lehrling vom Heizungsbauer bin, der gerade unten im Keller arbeitet. Aber so habe ich mich dann immer angepasst. Es war eine coole Zeit.

Aus dem anfänglichen Interesse für den Umbauprozess wuchs für Norbert Engst schnell eine Leidenschaft für die städtebauliche Geschichte des gesamten Wohngebiets. Über viele Jahre hinweg dokumentierte er mit mehr als 1.500 Fotos jeden Block, der abgerissen wurde und jeden Block, der umgebaut oder saniert wurde: „Im Laufe der Zeit hat sich ganz viel ungeplant angesammelt. Dann habe ich Fotos von früher recherchiert, Bebauungspläne, -konzeptionen und Bauabläufe,“ erklärt Norbert Engst. An ein Buch über das Heckert-Gebiet dachte er 2010 zum ersten Mal nach und schrieb ein Manuskript. Daraus sollte 2019 das Buch "Das Wohngebiet ‚Fritz Heckert‘. Bauen in neuen Dimensionen" werden.

Sind Sie 2010 schon mit Ihrem Manuskript auf das Stadtarchiv zugegangen?
Norbert Engst:
Nein, noch lange nicht. Ich habe erst einmal selbst weiter recherchiert. Auf das Stadtarchiv bin ich 2016 zugegangen und dachte erst: “Mal sehen, viel werden sie zum Heckert-Gebiet nicht haben.” Das war aber ein Trugschluss: Sie haben gigantische Mengen zum Heckert-Gebiet – hunderte Akten, Pläne. Es musste alles gelesen werden. Das hat ewig gedauert. Die intensive Phase war von 2016 bis Mitte 2019, also dreieinhalb Jahre. Das Stadtarchiv ist ja nur eines der Archive, die Bestände zum Heckert-Gebiet haben. Das Staatsarchiv hat auch welche. Bei Berlin gibt es das ehemalige Institut für Städtebau und Architektur, das auch noch mal ganz viel aus der DDR-Zeit hat und die mussten alle angeschrieben und besucht werden. Und überall habe ich recherchiert.

Das haben Sie alles alleine gemacht?
Norbert Engst:
Ja. Es war am Anfang nicht klar, dass es mal ein Buch geben würde. Eigentlich habe ich das für mich gemacht und dann hatte ich Glück, dass Herr Cecconi meine Schriften in die Reihe aus dem Chemnitzer Stadtarchiv aufnehmen wollte. Es ist ganz wichtig, dass man einen guten Lektoren hat – in meinem Fall den geschätzten Kollegen Dr. Pfalzer, der mit mir in vielen Sitzungen auf dem Dachboden des Stadtarchivs das Manuskript durchgegangen ist, Seite für Seite. Ich bin ihm unglaublich dankbar.

Sie sind gemeinsam mit dem Stadtarchiv mit dem Sächsischen Landespreis für Heimatforschung ausgezeichnet worden. Was bedeutet Ihnen das?
Norbert Engst:
Das war schön. Ich erinnere mich, als die Dame vom Landesverband Industriekultur Sachsen anrief. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Zumal das Buch völlig aus dem Rahmen fällt – der Inhalt, das Thema, das Genre. Das ist schon etwas Exotisches. Und dass das anerkannt und wertgeschätzt wird, das ist schon cool.

Doch mit dem Landespreis für Heimatforschung war für Norbert Engst noch lange nicht Schluss. Er hat sich in diesem Jahr einem weiteren Projekt für das Wohngebiet verschrieben: Er wollte die Mitte finden.

Wie ist die Idee zur Mittelpunkt-Platte entstanden?
Norbert Engst:
Das Wohngebiet Fritz Heckert ist ein städtebauliches Gebilde. Es geht von der Irkutsker Straße bis kurz vor Neukirchen. Mich hat interessiert, wo die Mitte ist. Und das musste ich ausrechnen auf zwei verschiedene Wege: Ich habe das zuerst mit einem geografischen Informationssystem gemacht: Auf einer Karte vom Vermessungsamt die Fläche des Heckert-Gebiets umrandet und dann rechnet der Computer sofort aus, wo davon die Mitte ist. Wir haben hier zigtausend Ecken – konkret 1.165. So viele Punkte braucht es nämlich, um das Heckert-Gebiet präzise einzugrenzen. Dann kann der Computer das relativ schnell ausrechnen und man bekommt zwei Koordinaten X und Y. Ich wollte das aber noch auf eine zweite, “handschriftliche” Art machen, es selbst überprüfen. Das habe ich über die Gaußsche Trapezformel gemacht: In Excel alles selbst eingegeben.

Alle 1165 Punkte?
Norbert Engst:
Ja, die Koordinaten. Rechnet man alles aus, bekommt man Koordinaten im Gauß-Krüger-Koordinatensystem. Die sagen uns erst mal nichts. Man muss sich Karten von Vermessungsamt organisieren, die müssen einen bestimmten Maßstab haben, dann bearbeitet man das immer weiter. Und irgendwann bekommt man wieder Koordinaten heraus und das Computerprogramm setzt einen gelben Punkt auf der Karte. Das ist dann der Mittelpunkt dieser Fläche.
Für das Heckert-Gebiet liegt der Mittelpunkt im Vita Center. Deswegen haben wir die Mittelpunktplatte auf der ausgerechneten Höhe außen in den Gehweg eingelassen. Dass sich der Punkt beim Vita Center befindet, ist kein Zufall, kein Marketinggag. Das Vita Center ist zwar erst 1999 gebaut worden, sollte ja aber schon in den 80ern als gemeinschaftliches kulturelles Zentrum für das Heckert-Gebiet entstehen. Es sollte ja dort, wo es heute steht, schon immer ein großes Zentrum hin. Wegen Geldmangel wurde das zu DDR-Zeiten verschoben – Wohnungsbau war eben wichtiger. Aber die Stadtplaner haben ja dieses große gemeinsame Zentrum nicht irgendwie aus Jux dorthin gebaut, sondern weil das eben die Mitte vom Heckert-Gebiet ist.

Am 10. November haben Norbert Engst und der Centermanager des Vita Centers, Sascha Twesten, die bronzene Mittelpunktplatte eingeweiht. Sie ist 62 mal 62 Zentimeter groß und wurde von der Kunstgießerei Hann aus Brandenburg gegossen. Nun liegt sie im Boden und zeigt allen Gästen und den Bewohnerinnen und Bewohnern, wo das Fritz-Heckert-Gebiet seine Mitte hat.

Welche Besonderheiten hat das Heckert-Gebiet, die im Rest der Stadt vielleicht gar nicht bekannt sind?
Norbert Engst:
Wir haben hier tolle Fernblicke aufgrund der Höhenlage im Süden von Chemnitz. Man kann auf der einen Seite bis in die Innenstadt schauen, auf der anderen Seite bis ins Erzgebirge.
Wer sich für Städtebau und DDR-Stadtplanung interessiert, der kann vieles davon hier noch sehen. Ich sage auch immer, dass in Hutholz ein Stück Weltgeschichte eingefroren ist. Es ist nicht fertig gebaut worden, sondern mit der Wende eingefroren. Man sieht aber, wie schon Planungen für die Zeit nach 1990 vorgenommen wurden vonseiten der DDR. Man sieht, wo eigentlich in den 90ern Parkplätze hingekommen wären. Man sieht Fundamente, die nicht realisiert wurden. Man sieht wirklich, wie die Zeit um 1989/90 eingefroren ist.

Das Heckert-Gebiet feiert 2024 sein 50-jähriges Jubiläum, sind Sie schon in Vorbereitung?
Norbert Engst:
Da sind wir schon alle ganz gespannt, wir freuen uns und sind schon in Vorbereitung. Wichtig ist mir vor allem, dass der Grundstein des Heckert-Gebiets gewürdigt wird, indem er wiederaufbereitet wird. Und ich würde auch gerne mal hineinschauen: Ich weiß, dass er hohl ist und damals eine Art Zeitkapsel in ihm versenkt wurde. Meines Erachtens nach müsste die noch darin sein. Der Grundstein liegt beim Finanzamt Chemnitz Süd in der Paul-Bertz-Straße, direkt auf dem Parkplatz.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Heckert-Gebiets?
Norbert Engst:
Dass es noch weitere 50 Jahre lebt, dass es insgesamt positiv dargestellt wird. Dass es eine wichtige Rolle in der Stadt spielt, im Marketing, in der Vermarktung, was ja zum Beispiel beim Karl Marx-Kopf auch möglich war. In den 90er Jahren wollten ihn alle weghaben und heute taucht er im Marketing überall auf. Und ich wünsche mir, dass interessierte Leute ins Heckert-Gebiet kommen und wissen wollen, wie es uns so geht.

Sie setzen sich auch für die Kulturhauptstadt ein. Was ist Ihr Lieblingsprojekt?
Norbert Engst:
Ich möchte das Heckert-Gebiet vorstellen, die verschiedenen Kontraste darstellen, die wir auf engstem Raum haben. Topsanierte Wohnungen auf der einen, völlig unsanierte auf der anderen Seite. Ich möchte das Heckert-Gebiet präsenter machen innerhalb der “Kulturhauptstadt-Bubble”.

Was wünschen Sie sich für Chemnitz für 2025?
Norbert Engst:
Dass das Kulturhauptstadt-Programm die Leute mitnimmt, vielleicht ein bisschen zugänglicher wird mit Projekten, die für Leute von hier von Leuten von hier gestaltet sind. Und vor allem, dass Chemnitz es schafft, sich selbstbewusst darzustellen, nicht fremde Trends aufzugreifen, sondern dass wir uns weiterhin so darstellen, wie wir sind: unverkrampft. Was 2020 bei der Bewerbung auch so war. Da haben wir uns ungeschminkt so gezeigt, wie wir sind. Weiter so ein Selbstbewusstsein wünsche ich mir.

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