Chemnitz ist mein Basislager

Jörg Stingl

Macher der Woche vom 18. Juni 2014

100 Meter lang, 20 Meter breit – das Becken des Freibades Bernsdorf hat noch immer beeindruckende Dimensionen und es ist eines der ältesten seiner Art in Chemnitz. Im Jahr 1925 in Betrieb genommen, hat es sich den Charme der Zwanziger Jahre erhalten können, auch dank des Einsatzes solcher Enthusiasten wie Jörg Stingl. Und der, wie könnte es anders sein, steigt zum Interview natürlich aus dem nach wie vor blauen Becken. Dem bekannten Chemnitzer Bergsteiger ist dieses Bad wichtig, das merkt man im Gespräch. Man könnte fast meinen, es sei einer seiner Gipfel, den zu besteigen er ziemlich viel auf sich nimmt. So nähert man sich der zweiten Facette dieses Chemnitzer Machers, der den Stadtnamen schon bis in den Himalaya getragen hat und doch immer wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist, zu der er eine, wenn auch kritische, aber tiefe Verbundenheit zeigt.


Jörg, Du bist der Chemnitzer Bergsteiger. Du hast schon auf dem Mount Everest und den anderen höchsten Gipfeln jedes Kontinents, den so genannten Seven Summits, gestanden. Demnächst führst Du wieder eine Tour auf den Kilimandscharo. Die Frage ist: Was zieht Dich wieder nach Chemnitz zurück?
Jörg Stingl:
Ich hab mal geschrieben, Chemnitz ist mein Basislager. Dabei ist die Stadt ja schon bekannt oder berühmt gewesen für das Bergsteigen. Wir hatten auch Zeiten in verschiedenen Teams, wo es ein bisschen schwerer voranging und wo uns niemand kannte. Von daher ist es eigentlich immer interessant, wieder nach Chemnitz zurückzukommen, weil uns die Leute hier unterstützen. Natürlich weil auch meine Eltern und meine Familie mittlerweile hier wohnen. Chemnitz bleibt auch das Basislager.

Mit dem Blick aus der Welt auf diese Stadt: Was macht Chemnitz für Dich besonders?
Das Besondere ist, dass es total unbedeutend ist. Dass es geschafft wurde, nach der Wende, neben den beiden anderen Großstädten, immer mehr in der Versenkung zu verschwinden. Dass sie irgendwie das glückliche Händchen hatten, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Da ist es auch nicht aufgefallen, wenn mal etwas nicht geklappt hat. Aber es ist andererseits unglaublich viel passiert und es gibt auch ganz viele Leute, die sich mittlerweile engagiert haben. In den letzten Jahren sogar die Stadt oder besser die Stadtverwaltung, die viel versucht hat, um den Ruf von Chemnitz zu verbessern. Da muss man bestimmt auch einen langen Atem haben als Chemnitzer, um die Entwicklung noch bis zu Ende mitzutragen, bis man wieder den guten Ruf einer Industriestadt hat, wo man auch das Geld, das man verdient, für sich selbst ausgeben kann.

Fehlt den Chemnitzern Selbstbewusstsein in Bezug auf ihre Stadt?
Auf die Frage würde ich jetzt nicht antworten wollen, weil den Menschen in Afrika oder der Dritten Welt sicher auch Selbstbewusstsein fehlt, wenn sie denen das Wasser abdrehen. Da ist es auch mit der großen Klappe nicht mehr soweit her. Da hat man erstmal zu tun, überhaupt am Leben zu bleiben. Da würde ich sagen, das kann man auf Chemnitz so nicht übertragen. Mangelndes Selbstbewusstsein sehe ich eigentlich in Chemnitz nicht. Es wird mehr ein bisschen von außen rein getragen. Ich denke eher, dass es viele gab, die, weil sich nichts bewegt hat, aufgegeben haben. Das hat vielleicht nicht mit eigenem Selbstbewusstsein zu tun, sondern vielleicht auch mit dem mangelnden Mut in der Stadt, sich auch selbst mal vor den Karren zu spannen.

Du bist weltweit unterwegs, könntest fast schon ein Botschafter sein. Wie erklärst Du, dass Du aus Chemnitz kommst?
Wer sich auskennt in Deutschland, dem kannst Du schon sagen, dass Du aus Chemnitz kommst. Aber manche fragen: „Wo liegt denn das?“ Dann sage ich: „200, 300 Kilometer südlich von Berlin“ oder „im Osten Deutschlands.“ Als Ossis outen wir uns ja gern, aber ich sage mal, Chemnitz jemandem zu beschreiben, der nie hier war oder Deutschland nicht kennt, ist relativ schwierig. Es ist eine schöne „Klein“stadt, wo man gut leben kann und die sicher auch interessant ist, in Bezug auf ihre Historie. Man muss sich selbst ein bisschen sein Leben gestalten und die eine oder andere Sache ermöglichen, wie zum Beispiel unser Freibad.

Da kommst Du ich gleich auf den Punkt: Aus welchen Gründen engagierst Du Dich so intensiv für das Freibad Bernsdorf?
Da muss ich ein bisschen ausholen, weil ich ja nicht nur Bergsteiger war, ich war auch mal ein ganz guter Schwimmer, bis Olympia hat es auf alle Fälle gereicht. Aus dem Hintergrund kenne ich natürlich auch viele Leute, die gerne ein bisschen Wassersport machen. Vor der Wende war Leistungssport ja mal groß geschrieben und unter anderem gab es natürlich auch diese Brücke vom Hochleistungssport in die Basis hinein und diese Leute haben sich in Freibädern aufgehalten, was man natürlich nicht unbedingt auch als Sport im Wettkampf-Sinn bezeichnen kann. Und von den Freibädern gab es ja ganz viele, früher. Und nach der Wende sind viele davon geschlossen worden. Unter den übriggebliebenen waren die zwei Leuchttürme in Gablenz und dann eben das Freibad Bernsdorf mit dem einzigen 100-Meter-Becken, was man so in der Umgebung noch kennt. Der Grund, sich dafür zu engagieren, war, dass man das Freibad Bernsdorf eben auch gern noch schließen wollte.

Seid Ihr für das Freibad als Förderverein organisiert oder wie macht Ihr das?
Nein. Es gibt zwei Vereine, die das unterstützen. Das ist zum Einen das Schwimmteam Chemnitz und dann gibt es eine Art Interessengemeinschaft von Extremsportlern und ein paar Vertretern aus der Wirtschaft. Zu der Gruppe gehöre ich jetzt, das sind die, die Geld einbringen und Sachen möglich machen in Bezug auf Umbau und Unterhaltung.

Gibt es viel Unterstützung aus der Chemnitzer Wirtschaft?
Da gibt es einen harten Kern, der uns seit vielen Jahren ermöglicht, den betriebswirtschaftlichen Grundstock zu bilden. Man muss aber auch fairerweise sagen, dass die Stadt hier als Betreiber schon sehr präsent ist. Aber das ist so eine riesige Anlage, das sind 3,5 Hektar, und ein 100-Meter-Becken, 20 Meter breit, dass Du ohne die Stadt das Projekt gleich vergessen könntest. Die Stadt muss auf alle Fälle Betreiber bleiben und wir können der Stadt sagen: Wir halten die Kosten soweit in Grenzen, dass wir zum Beispiel die Rasenmahd übernehmen oder Geld in den Ausbau vom Schwimmmeistergebäude stecken. Wir würden eine kleine Basis bieten, die Stadt aber als Hauptbetreiber gerne in der Verantwortung lassen.

Ist Chemnitz eine Sportstadt? Auch unter dem Gesichtspunkt des Breitensports?
Wir waren sicherlich mal mit unserer Serie an Olympiasiegern und Weltmeistern nahe dran, eine Sportstadt zu werden im Sinne von: Wir sind durch den Sport bekannt geworden. Aber was die Sportanlagen betrifft, sind wir auf alle Fälle keine Sportstadt. Vielleicht werden wir ja jetzt wieder eine, weil ein neues Stadion gebaut wird. Da werden wir vielleicht eine Fußballsportstadt.

Kannst Du uns etwas zu Deinen weiteren Plänen sagen?
Als Nächstes bin ich nochmal in Afrika, da gehe ich mit einer geführten Tour auf den Kilimandscharo. Einfach nur, um den zu besteigen. Und vielleicht können wir ja das Botschafterpaket mit nach Moshi (Tansania, am Fuß des Kilimandscharo; d. Red.) nehmen, um Chemnitz in Afrika bekannter zu machen.

Jörg, was treibt Dich nach Afrika? Und was treibt Dich wieder zurück nach Chemnitz, nach Sachsen?
Nach Afrika treiben mich natürlich die Berge. Wir fahren ja nicht einfach mal schnell nach Afrika, sondern wir sind ja in ganz vielen verschiedenen, geführten Touren unterwegs. Aber vor allem auch in vielen Expeditionen. Viele Chemnitzer werden es wissen: Es ging eigentlich auf alle Kontinente in den letzten Jahren. Genauso wie vielleicht am Anfang, als wir uns das noch nicht leisten konnten, in den Himalaya zu fahren und nach Russland gefahren sind. Dieses Jahr bin ich zum Beispiel auch mal wieder im Elbrus, wo unsere Anfängerzeiten waren. Was ich sagen will, ist: Mich zieht es sowieso raus aus Chemnitz. Aber das bedeutet ja nicht, dass Du nie wieder zurückkommst. Im Gegenteil: Wenn Du auf der Welt viel gesehen hast und auch teilweise siehst, wie oder auf welchem Niveau wir jammern, dann kann man sagen, man hat als Chemnitzer doch noch Hoffnungen, dass alles gut wird. Aber ich denke, das ist auch wichtig, dass ich wieder hierher komme und etwas passiert.

Sind das die gleichen Macherqualitäten, die man benötigt um auf einen Berg zu steigen, wie die, um etwas, sagen wir mal, in der Ebene zu bewegen?
Du musst, wenn Du irgendetwas anfängst, es auch durchziehen. Auch wenn es zwischendurch einmal keinen Sinn mehr ergibt und man fast „kurz vorm Verrecken ist“ mit seinen Projekten. Aber das ist dann nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.

Wie sieht eine fertige Stadt für Dich aus?
Eine fertige Stadt gibt es ja nicht. Ich denke, eine Stadt kann nie fertig sein. Also wenn eine Stadt fertig ist, dann heißt das, die Verwaltung ist fertig mit der Welt. Weil denen nichts mehr einfällt. Und den Bürgern natürlich auch nicht. Weil die sind letztendlich dafür verantwortlich, was sie für eine Verwaltung haben. Also kann eine Stadt eigentlich immer nur einen Entwicklungsprozess durchmachen, in Richtung: „Ich habe einen Plan, was ich in fünf Jahren vielleicht einmal beschließen will.“ Wichtig ist, dass es ein langfristiges Konzept gibt, ein sehr langfristiges. Und natürlich immer auch ein kurzfristiges Konzept, wo man agieren kann, um Schritt für Schritt auf das große Ziel „Schöne Stadt Chemnitz“ hinzu steuern. Alle Chemnitzer träumen ja davon, dass die Innenstadt toll ist, dass es überall Caféterias gibt und auch ein paar junge Leute in die Stadt gezogen werden, die sich auf dem Markt nicht nur grillen lassen oder den Sockenmarkt beobachten. Sondern dass man mit dieser herrlichen, zur Verfügung gestellten, auch mit Steuermitteln erzeugten Fläche auch mal etwas macht! Aber dafür braucht man natürlich Leute, die einen Plan haben.

Wie siehst Du denn Chemnitz in der Zukunft?
Ich war gestern am Feiertag im Freibad und da habe ich auch ganz viele Studenten gesehen. Da frage ich mich immer: „Hey Jungs, wo sind die denn?“ Oder eben die Mädels, wenn im Sommer schönes Wetter ist. Aber die haben natürlich am Campus sensationelle Bedingungen und brauchen eigentlich gar nicht in die Stadt reinfahren. Ich denke, das ist genau der Punkt, dass wir ganz viele Leute für die Stadt gewinnen müssen. Nicht nur mit Geld, sondern auch mit den Bedingungen, die die Innenstadt jetzt bietet. Und mit unserem Freibad versuchen wir, ein kleines Puzzleteil beizutragen. Damit Chemnitz wieder mehr Flair bekommt, denn die Leute sollen es ja auch leben. Es ist ja nicht so, dass wir alles neu erfinden müssen, es gab und gibt ja auch schon ganz viel. Vielleicht gibt es da ja auch noch ein paar mehr Verantwortliche in der Politik, die sich aufraffen, das nötige Geld zu besorgen. Damit es nicht nur dem Stadion gutgeht, sondern damit an den anderen Sportanlagen ein bisschen was getan wird.

Die abschließende Standardfrage lautet: Muss man den Chemnitzern Mut machen?
Nö. Siehste ja. Der Stingl hat noch Mut und wohnt auch noch hier. Da gibt es ganz viele von unseren Freunden, Bekannten und sicherlich auch Geschäftspartnern, die viel mehr Mut beweisen und richtig Geld hier in der Region in die Hand nehmen. Und einfach an die Zukunft hier und des gesamten Sachsens glauben, speziell die Großindustrieregion Chemnitz-Zwickau. In der Richtung mache ich mir da wenig Sorgen.

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