Chemnitz und die Wichtigkeit des zweiten Blickes

Marta Gonzalez de Mendibil

Macherin der Woche vom 6. August 2014

Zum elften Mal findet das Chemnitzer Kunst- und Kulturfestival Begehungen statt. Vom 14. – 17. August bespielen neun nationale und internationale Künstler den Rosenplatz im Stadtteil Bernsdorf. Für Marta Gonzalez de Mendibil ist es nicht nur ein Festival. Weil sie sich nicht nur mit der drittgrößten ostdeutschen Stadt identifiziert, sondern auch was „machen“ will, ist sie seit drei Jahren im Verein BEGEHUNGEN e.V. aktiv. Deshalb ist sie stellvertretend für die Ehrenamtlichen im Verein die Machein der Woche. 


Weißt Du, wie die Idee der BEGEHUNGEN entstanden ist?
Marta Gonzalez de Mendibil:
Vor elf Jahren haben Beate Kuhnath und Lars Neuenfeld die Idee auf dem Sonnenberg das erste Mal umgesetzt, auch vor dem Hintergrund leerstehende Gebäude oder Räumlichkeiten zu nutzen. Die beiden haben eine kleine Fotoausstellung gemacht, luden dazu Fotografen ein und zeigten in leerstehenden Ladenlokalen Fotos. Nachdem ein anderer Verein die Organisation der Begehungen übernommen hatte, wanderte das Festival an den Brühl. Und vor einigen Jahren gründete sich schließlich der Verein BEGEHUNGEN e. V., der mit den Begehungen stets wechselnde Räumlichkeiten bezog. So waren wir schon in der ehemaligen Justizvollzugsanstalt auf dem Kaßberg und dem ehemaligen Veranstaltungskomplex „Forum“.

Was hat Dich dazu bewogen, dem Verein beizutreten?
Ich war schon vier Jahre in Chemnitz, wohnte im Wohnheim auf dem Campus und hatte keine Ahnung was überhaupt in der Stadt läuft. Ich habe nur Kultur konsumiert. Das war okay. Ich habe Plätze gesehen und dachte: Die machen coole Sachen. Erst mit dem Umzug auf den Kaßberg änderte sich alles für mich. Ich habe neue Leute kennengelernt, war ein paar Mal im Weltecho und im Clubkino. Dann hat eine Freundin zu mir gesagt: Wenn du irgendwas machen willst, dann könntest du zum Treffen der BEGEHUNGEN kommen.
Ich dachte nur, BEGEHUNGEN – was ist das? Zum Treffen bin ich dann gegangen und fand es cool. Ich habe mich hier wohl gefühlt und wollte nicht mehr nur Kultur konsumieren, sondern auch was machen.

Mittlerweile machst Du nicht mehr „nur“ mit, sondern bist auch die Vorsitzende des Vereins.
Seit dem vergangenen Jahr bin ich Vorstand. Aber das bedeutet nicht besonders viel. Wir sind ein sehr demokratischer Verein. Also ich treffe keine Entscheidungen allein. (lacht)

Wie läuft die Organisation für das Festival ab?
(Lacht) Manchmal ein bisschen chaotisch. Nach dem Festival ist schon vor dem Festival. Wir treffen uns alle zwei Wochen, machen Brainstorming, überlegen Themen und Orte, an denen das Festival im nächsten Jahr stattfinden kann. Das ist ein ziemlich langer Prozess. Der Ort und das Thema sollen schon zusammen Sinn ergeben. Wir haben in Chemnitz zwar Leerstand bei Objekten, aber es ist nicht immer leicht, einen passenden Ort zu finden. Aus diesem Grund machen wir Ausflüge, spazieren durch die Stadt und schauen nach leerstehenden Gebäuden. Wir versuchen uns dann von den Gebäuden ein Bild zu machen, diese zu besichtigen und das passende Thema abzuklären. Und schließlich müssen die Gebäude auch einen gewissen Standard haben: So brauchen wir für die Durchführung des Festivals stets Strom und Wasser.

Unter welchen Gesichtspunkten werden die Künstler, die bei den BEGEHUNGEN dabei sind, ausgewählt?
Wir haben in jedem Jahr sehr viele Bewerbungen. Es gab schon Jahre, in denen wir mehr als 400 Einreichungen aus aller Welt hatten. Wir freuen uns natürlich über jede einzelne Bewerbung, die uns aber auch vor eine Herausforderung stellt. Denn das heißt, jedes Konzept lesen, dieses auch verstehen und überlegen, ob es zum Thema passt. Die Auswahl trifft dann eine Jury, die in diesem Jahr bestand sie aus Katja Manz (Stadtgeografin), Olaf Held (Regisseur und Drehbuchautor), Anja Engel (Vorstand des LOCALIZE Festival Potsdam) und dem Begehungen e. V. Die Jury bewertet die Konzepte nach formal-ästhetischen Gesichtspunkten, aber auch inwiefern das jeweilige Konzept zum Thema und zum Ort passt. Da wir ein Festival sind, dem die Förderung von Nachwuchskünstlern wichtig ist, ist natürlich auch dies ein Auswahlkriterium.

Werden die Künstler für ihre Arbeit in Chemnitz bezahlt?
Vor zwei oder drei Jahren haben wir die Künstler noch nicht bezahlt. Sie bekamen nur eine kleine Aufwandsentschädigung. Das wollten wir ändern, weil die Künstler schließlich ihren Lebensunterhalt über ihre künstlerische Arbeit bestreiten müssen. Die Künstler kommen für vier Wochen hier her und entwickeln etwas – dafür sollen sie eben auch bezahlt werden. Auch ein Grund, warum die Zahl der teilnehmenden Künstler im Vergleich zur Veranstaltung im Kaßberg Gefängnis vor drei Jahren kleiner ist. Damals waren es noch 50 und dieses Jahr sind es neun Künstler, die aber bezahlt werden.  

Darfst Du über das Honorar der Künstler sprechen?
Unsere Arbeit für das Kunst- und Kulturfestival ist transparent. Deshalb darf ich darüber sprechen. Jeder der Teilnehmer bekommt 1.200 Euro für seine Arbeit während der vier Wochen hier in der Stadt.

Die Künstler sind während der vier Wochen in Chemnitz untergebracht?
Ja, vergangenes Jahr haben wir das zum ersten Mal gemacht, neun Künstler einzuladen und sie die komplette Zeit hier unterzubringen. Das hat so gut funktioniert, dass wir dachten: In diesem Jahr wieder. Die Sicht, die Leute von außerhalb mitbringen und hier weiterentwickeln , ist sehr wichtig. Nicht nur für uns. Was denken sie z. B. über die Stadt. Da kommen Antworten, die wir, die schon so lange hier leben, längst vergessen haben oder die für uns schon total normal sind.
Es findet eine Auseinandersetzung mit Leuten statt, die eigentlich mit Chemnitz überhaupt nichts zu tun haben. Zumal auch viele nicht aus Deutschland, sondern aus dem Ausland kommen. Wir haben ein wirklich gutes Gefühl, wenn wir so etwas schaffen, dass hier Leute her kommen, sich wohl fühlen und positiv über die Stadt sprechen. Das ist für uns ein Erfolg. Im vergangenen Jahr war ein Spanier dabei, der mittlerweile in Chemnitz lebt (lacht). Der war hier, hat für die BEGEHUNGEN als Künstler gearbeitet, ist zurück nach Spanien gegangen, schrieb seine Abschlussarbeit und im Dezember ist er zurückgekommen. Das finde ich unglaublich.

Warum sind die BEGEHUNGEN so wichtig für Chemnitz?
Ich finde die BEGEHUNGEN wichtig, weil sie versuchen eine andere Perspektive in die Stadt bringen. Sie versuchen, Leerstand nicht mehr nur als ein Problem zu sehen, sondern auch als Chance oder Möglichkeit für was Neues. Es ist ein Problem, aber auch eine Möglichkeit sich zu öffnen und zu sagen: Wir haben so viele leerstehende Gebäude – lass uns daraus was machen. Das finde ich wichtig für die BEGEHUNGEN. Auch das wir es schaffen, neun Künstler nach Chemnitz zu holen, die eventuell danach unsere neuen Botschafter sind. Die nach Hause gehen und überall erzählen, wie super es hier war.

Würdest Du Chemnitz als Kunststadt bezeichnen?
Es gibt doch eigentlich viele Galerien hier in der Stadt, dann die Kunstsammlungen, das Museum Gunzenhauser und viele weitere Museen. Da kann man schon von einer Kunststadt sprechen. Ich denke, Chemnitz hat viel im Kulturbereich zu bieten. Ich weiß nicht warum, aber ich habe am Anfang nichts davon gewusst. Im Wohnheim war ich etwas ab vom Schuß, dass ich erst zwei Jahre hier wohnen und die richtigen Leute kennenlernen musste, um zu sehen was es hier eigentlich alles gibt. Manchmal sind es kleine Überraschungen, die man in einer versteckten Ecke findet: Oh hier gibt es was - noch ein Verein und noch eine Galerie. Das sieht man nicht auf den ersten Blick. Und das gefällt mir auch. Man muss dem zweiten nur einen Chance geben. Aber das ist auch nicht leicht. Ich habe am Anfang meines Deutschlandaufenthaltes in Leipzig gewohnt und Deutsch gelernt. Als ich dann im Oktober nach Chemnitz kam und die Stadt sah, alles so grau, dachte ich nur: Was mache ich nur hier.    

Warum bist Du vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen?
Ich habe in Spanien mein Abitur gemacht und wollte danach was Neues machen und erleben. Da bin ich nach Leipzig, habe ziemlich intensiv Deutsch gelernt und wollte nicht zurück nach Spanien. Ursprünglich war es so geplant, dass ich nach dem Jahr wieder nach Spanien gehe und dort studiere. Aber das konnte ich mir nicht vorstellen und bin schließlich in Chemnitz gelandet.

Ein Umzug von Leipzig nach Chemnitz ist schon außergewöhnlich.
Das war auch Zufall. Mein erstes Mal in Chemnitz war mein Umzug. Ich war davor noch nie in Chemnitz. Mein Freund hatte hier schon eine Stelle an der Uni. Das war Ende September und ich hatte mich nirgends beworben. Er hat an der TU Chemnitz gefragt, ob man sich noch immatrikulieren kann und man konnte. So landete ich in Chemnitz, studiere Anglistik und Amerikanistik und bin mittlerweile fast fertig.

Hast Du vor, nach deinem Abschluss hier weiter zu leben?
Das ist jetzt die große Frage. Die BEGEHUNGEN organisieren wir ehrenamtlich und verdienen damit kein Geld. Ich würde super gern hier bleiben. Ich habe hier meine Stadt mit meinen Leuten gefunden. Das habe ich am Anfang wirklich nicht gedacht. Ich fühle mich hier zuhause und würde gern bleiben. Ich wäre glücklich, wenn ich mit den BEGEHUNGEN meinen Lebensunterhalt verdienen könnte.

In diesem Jahr haben die Macher des Kunst- und Kulturfestivals BEGEHUNGEN das erste Mal eine Location unter freiem Himmel ausgewählt. Den Rosenplatz im Stadtteil Bernsdorf, direkt neben der alten EDEKA-Kaufhalle Ecke Lutherstraße/Bernsdorfer Straße. „Die BEGEHUNGEN waren noch nie in Bernsdorf. Ein Punkt, der für den Rosenplatz sprach“, sagt Marta Gonzalez de Mendibil.

Welche Ausstellungsräume gibt es in diesem Jahr?
Die alte EDEKA-Kaufhalle wird als unser Festivalzentrum genutzt. Hier bauen wir einen Supermarkt rein undzeigen die Dokumentationen der Künstler, wie sich ihre Arbeiten während der Zeit in Chemnitz entwickelt haben. Wir werden auch Einblicke in unsere Arbeit geben. Wir machen uns quasi „nackig“ und veröffentlichen unsere Protokolle. Dadurch könnendie Leute nachvollziehen,wie die Begegnungen zustanden kamen. Das wird alles in der alten EDEKA-Kaufhalle sein. Es kommen keine Kunstwerke rein. Ausstellungsorte werden sein: der Rosenplatz, die alte Bauruine weiter hinten und ein Teil des alten Bunkers.

Warum sollen sich die Chemnitzer das Kunst- und Kulturfestival BEGEHUNGEN anschauen?
Weil es mal was anderes ist. Dieses Jahr ist es das erste Mal draußen und ich denke, das gibt uns viel Freiheit. Es ist ein Festival, das wir mit ganz viel Liebe, manchmal mit schlechter Laune und mit viel Stress organisieren. Wir haben auch Workshops, interaktive Kunst zum Mitmachen und Konzerte. Das wird schön. Die BEGEHUNGEN kosten keinen Eintritt und stehen somit jedem offen. Zudem sind wir frisch und frech. Die Stadt braucht ein bisschen Frechheit. Nicht zu viel, aber ein bisschen.  

Woher kommen die Künstler in diesem Jahr?
Aus sechs Ländern: Portugal, den Niederlanden, aus Rumänien, Schottland, Spanien und Deutschland. 

Woher kommen die Besucher – nur aus Chemnitz?
Nein, sie kommen u. a. auch aus Zwickau, Dresden, Leipzig und Berlin.

Gibt es ein vergleichbares Festival in Deutschland?
Es gibt in Potsdam eins, das heißt LOCALIZE Festival. Es ist ungefähr so wie die BEGEHUNGEN. Sie benutzen auch leerstehende Gebäude oder Ecken in Potsdam. Der große Unterschied ist aber, dass es super schwer ist, in Potsdam Leerstand zu finden.

Die Vereinsmitglieder und Du machen das alles ehrenamtlich. Woher zieht Ihr den Enthusiasmus?
Ich kann nur für mich sprechen: Ich möchte ein Teil dieser Stadt sein und etwas machen, außer abends weggehen.

Ursprünglich aus San Sebastián in Nordspanien verschlägt es sie vor ca. sieben Jahren über Leipzig nach Chemnitz. Aus der anfänglichen Skepsis ist eine echte Liebe zwischen der Industriestadt und der 25-jährigen Studentin geworden. „Mittlerweile habe ich hier ein zweites Zuhause gefunden“, beschreibt sie ihre Gefühle für die Stadt. Wenn ich in San Sebastián von Chemnitz spreche, dann rede ich von Zuhause.“

In den sieben Jahren - was ist das Besondere für Dich an Chemnitz?
Die Wichtigkeit des zweiten Blickes. Man braucht eine Schocktherapie, wenn man das erste Mal als Ausländerin nach Chemnitz kommt. Ich komme aus einer ziemlich schicken Stadt in Spanien. Dann kommt man über Leipzig – eine  Stadt, die auch richtig schick ist und viele Angebote hat – nach Chemnitz und man denkt nur: „What?!“. Zu entdecken, dass es den zweiten Blick gibt, finde ich wichtig. Und so viel Grün habe ich in meiner spanischen Stadt nicht. Und so viel Platz. Die Straßen sind so groß, ich habe hier Platz zu atmen und mich zu bewegen.

Ein Phänomen: Chemnitzer entschuldigen sich für Ihre Stadt  bzw. für Ihre Herkunft. Deshalb unsere Standardfrage: Muss man den Chemnitzer Mut machen?
Wirklich? Also ich sage immer, woher ich komme – aus Chemnitz. Die Leute glauben mir das zwar nicht und ich sage dann: Ursprünglich aus Spanien. Und wenn die Leute anfangen über Chemnitz komisch zu sprechen, dann sage ich: Warst du schon mal in Chemnitz? Komm mal vorbei und dann kannst du urteilen. Deshalb sollte man den Chemnitzern Mut machen. Ich weiß nicht, warum sich Leute ständig entschuldigen oder Chemnitz so wertlos schätzen. Das haben sie nicht nötig. 

 

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