Rede

zur Kranzniederlegung und Gedenkveranstaltung 9. November 2015

 

Anrede,

wir gedenken heute der Opfer der Reichspogromnacht von 1938.
Hier am historischen Ort der einstmals stolzen, schönen Chemnitzer Synagoge. Diese wurde am 9. November 1938 in blinder Wut niedergebrannt von gehorsamen Anhängern einer menschenverachtenden Ideologie.
Getrieben von Hass und Angst, zündeten sie die Gotteshäuser der Jüdischen Gemeinden in Deutschland an.
Die Juden hatten sie zur Projektion ihrer Ängste, ihres Neides und ihres Hasses gemacht.
 

 

Ich bin froh, dass es heute wieder eine starke Jüdische Gemeinde in Chemnitz gibt.
Eine Gemeinde mit einer Synagoge und seit diesem Jahr auch wieder mit einem eigenen Rabbiner.
Eine Gemeinde mit wieder in unsere Stadt ausschlagenden Wurzeln. Eine Gemeinschaft, welche keinen Hass empfindet, keinen Groll hegt – die vergeben hat, ohne dabei zu vergessen. Dafür danke ich Ihnen, liebe Mitglieder der Jüdischen Gemeinde.

Welchen Stellenwert hat der 9. November für uns? Schicksalstag der Deutschen? So wollten einige Geschichtsvergessene den 9. November in Deutschland nennen. Schicksalstag. Als ob das deutsche Volk am 9. November 1938 nur sein Schicksal erfüllt hätte, als wäre die Pogromnacht und all die Menschenrechtsverbrechen, welche ihr folgen sollten, vorbestimmt gewesen. Als hätten die Deutschen keine Wahl gehabt.

Aber Menschen haben fast immer eine Wahl. So auch die Deutschen.
Sie hätten am 9. November 1938 nicht für einen der größten Schandmale der europäischen Geschichte sorgen müssen.

Niemand zwang sie dazu. Sie hätten Widerstand leisten können, nicht dem Mensch ein Wolf sein. Nicht mitmachen, nicht wegsehen, keine Gewalt. Keine KZ’s. Kein Krieg. Keine 6 Millionen ermordete Juden.
Fast ein Jahrzehnt stehe ich als Oberbürgermeisterin an diesem Ort und gedenke mit Ihnen der jüdischen Opfer der NS-Zeit. Und wir wenden uns allen Juden in Chemnitz gerade an diesem Ort mit Liebe und Verantwortung zu.

Diese Rede ist mir dieses Mal nicht leicht gefallen: Immer wieder habe ich mich gefragt: Kann, soll, muss ich auf die aktuelle Entwicklung hier an diesem Ort eingehen.
Ich habe mich entschieden, nicht auszublenden, dass die Welt teilweise aus den Ankern gerissen ist. Und 2015 eine Völkerwanderung in Gang kam. Nach Europa, Deutschland, nach Chemnitz.

Machtinteressen, Glaubenskriege, zerstörte Städte, Flüchtlinge die heimatlos in Lagern ausharren, sind nicht nur Teil der Abendnachrichten, sondern sie sind jetzt auch hier. Z. B. hier gegenüber in einer Erstaufnahmeeinrichtung des Landes.

Es sind Menschen unterschiedlicher Religionen. Vor allem Muslime.
Eine Situation, mit der wohl niemand in Deutschland in dieser Geschwindigkeit und Dimension gerechnet hat.
Und so sieht das Land auch aus: Hilfsbereit, hilflos, verunsichert, voller Angst vor der Frage: Was wird aus uns?
 

 

Mir hat mal ein Rabbiner gesagt: „Wir Juden fühlen uns in Deutschland sicher, wenn es den Deutschen gut geht.“
Deutschland ist auch 2015 ein starkes Land. Und es geht uns vergleichsweise sehr gut. Aber es gibt eine massive Verunsicherung, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen, verkraften kann. Diese Verunsicherung kann ich gut nachvollziehen.

Demokratie lebt von Überzeugung und Akzeptanz. Wenn diese schwindet, geht Vertrauen verloren. Und genau das dürfen wir in Deutschland nicht riskieren.
Deshalb dürfen wir nicht jede und jeden, der sich Sorgen macht darüber, wie viele Menschen zu uns kommen, geringschätzen oder ausgrenzen. Es sind echte und ehrliche Sorgen, weit weg von der Ideologie der Neonazis.

Aber wo ist die Grenze? Der Aufnahmefähigkeit dieses Landes? Es gibt sie. Wo ist die Grenze zwischen Sorge und Hass? Es gibt sie. Ganz konkret:
Wenn aus Sorge Hysterie, Demagogie und Gewalt wird:

Sprüche, die in diesem Herbst auf Kundgebungen im ganzen Land gerufen und bejubelt werden, erinnern fatal an Sprüche, die in den Jahren 1933 bis 1938 gerufen und bejubelt wurden.
Von „3000 Jahren Europa und 1000 Jahren Deutschland“ ist dort die Rede.
Von „1000 Jahre Deutschland“ ist der Schritt zum „1000 jährigen Deutschen Reich“ nicht fern.
 

 

Wenn wir hier vor der niedergebrannten Synagoge stehen, dann wird diese geistige Brandstiftung bedrückend. Es muss die Frage gestellt werden, wie lange dauert es, bis aus geistiger, reale Brandstiftung wird?

Das Bundeskriminalamt gibt für die Zeit von Januar bis Oktober 2015 knapp 600 Straftaten gegen Asylunterkünfte an. 600 Straftaten in 10 Monaten. Fast jede Woche brennen Gebäude, Container, in denen Flüchtlinge unterkommen sollen.

Nein, die Situation 2015 ist nicht mit der Situation am Ende der Weimarer Republik vergleichbar. Wir haben eine starke Zivilgesellschaft, eine gewachsene Humanität. Wir sind wehrhaft gegen Demagogen und Hass. Wir haben Pressefreiheit. Unsere Demokratie ist viel stärker verwurzelt, als sie dies in der Weimarer Republik je war. Und doch gibt es in unserem Land Menschen, die nicht verstehen wollen, wie unsere Demokratie funktioniert.

Der erste Wissenschaftsminister des Freistaates Sachsen, Herr Professor Hans Joachim Meyer schreibt in seinem jüngst veröffentlichten Buch: „In keiner Schublade“: Erfahrungen im geteilten und vereinten Deutschland: „ [Viele Menschen in Ostdeutschland] haben kein positives Verhältnis zum politischen Streit. Auch sehen sie nicht die Notwendigkeit des politischen Kompromisses.“ „Für sie herrscht dann Demokratie, wenn sie ihren Willen [bekommen].“

Eine scharfe aber aus meiner Beobachtung nicht unzutreffende Zustandsbeschreibung. Und auch hier haben wir die Wahl. Die Wahl, wie wir auftreten und den fremden Menschen gegenübertreten wollen. Und denen, die nicht aus Sorge wegen der vielen Fremden, sondern aus Hass und Ablehnung gegen alles Fremde laut auf den Straßen und Plätzen und hemmungslos in den sozialen Netzwerken agitieren.

Lassen wir uns von denen ihr schlichtweg falsches Demokratieverständnis diktieren? Oder treten wir entschlossen für Meinungspluralismus und Diskussionskultur ein? Demokratie lebt und wächst, wenn sie viele viele Träger, Interpreten und Verfechter hat.

Lassen Sie uns sicherstellen, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen, denn wenn man die Wahl hat, ist auch nur man selbst verantwortlich für die Implikationen.
Die Aussage „Wir haben ja von nichts gewusst“ galt nie. Und heute schon gar nicht.

Cookie Einstellungen

Wir verwenden auf dieser Website mehrere Arten von Cookies, um Ihnen ein optimales Online-Erlebnis zu ermöglichen, die Nutzerfreundlichkeit unseres Portals zu erhöhen und unsere Kommunikation mit Ihnen stetig zu verbessern. Sie können entscheiden, welche Kategorien Sie zulassen möchten und welche nicht (mehr dazu unter „Individuelle Einstellung“).
Name Verwendung Laufzeit
privacylayer Statusvereinbarung Cookie-Hinweis 1 Jahr
cc_accessibility Kontrasteinstellungen Ende der Session
cc_attention_notice Optionale Einblendung wichtiger Informationen. 5 Minuten
Name Verwendung Laufzeit
_pk_id Matomo 13 Monate
_pk_ref Matomo 6 Monate
_pk_ses, _pk_cvar, _pk_hsr Matomo 30 Minuten

Datenschutzerklärung von Matomo: https://matomo.org/privacy/